"Die Frage nach gesellschaftlicher Wirkung fordert die Wissenschaft heraus"
FAU/Harald Sippel
Der interaktive Globus der Wissenschaftsfreiheit stellt die Wissenschaftsfreiheit aller Länder der Welt mit zeitlichem Vergleich seit 1900 dar.
Jeden Tag könnten Katrin Kinzelbach und Lars Lott in einem Vortragsraum stehen, um den Academic Freedom Index zu erklären. Die Nachfrage ist groß. Die Belastung der Forschenden auch. Wie gelingt die Balance zwischen Wissenschaft und Wirkung?
Mehr als 2300 Länderexpert:innen liefern die Daten für den Academic Freedom Index (AFI). In wenigen Jahren ist der AFI zum vielbeachteten Gradmesser für Wissenschaftsfreiheit in fast 180 Ländern geworden. - Ein Gespräch mit Katrin Kinzelbach, einer der Initiatorinnen des AFI, und Lars Lott, dem Projektkoordinator, rund um das Spannungsfeld von Wissenschaft und – politischer – Wirkung.
Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Kinzelbach: Ich war 2017 als Gastprofessorin an der Central European University in Budapest, die damals unter erheblichem politischem Druck stand. Ein Jahr vorher mussten Forschende aus der Türkei fliehen, um nicht im Gefängnis zu landen. Mit diesen Ereignissen festigte sich bei mir der Eindruck, dass die Wissenschaftsfreiheit bedroht ist. Ich habe mich dann gefragt: Welche empirische Evidenz gibt es für diese These? Und stellte fest, dass die Datenlage unzureichend war. So entstand die verrückte Idee, einen Index zu entwickeln, der die Wissenschaftsfreiheit international vergleichend erfasst.
Vor dem Hintergrund der Reputationsökonomie rund um die diversen Hochschulrankings haben wir zuerst daran gedacht, Daten für einzelne Institutionen zu erheben und die Rankings um die wichtige Dimension Wissenschaftsfreiheit zu ergänzen. Aber das haben wir gelassen, erstens, weil es uns bei der Datenerhebung völlig überfordert hätte, zweitens weil ein Kollege aus Syrien mich mit einem Gegenargument überzeugt hat: Auch in hochrepressiven Kontexten gäbe es Hochschulen, die es schafften, eine gewisse Wissenschaftsfreiheit zu realisieren. Diese besonders herauszustellen, könnte repressive Regime erst recht provozieren. Also haben wir uns auf Länderebene fokussiert.
Katrin Kinzelbach ist seit 2019 Professorin an der FAU und hat den Lehrstuhl für Menschenrechtspolitik inne. Vor ihrem Wechsel an die FAU war sie stellvertretende Direktorin des Global Public Policy Institute in Berlin.
Welche politischen Auswirkungen hat der Academic Freedom Index bisher gehabt?
Lott: Wir informieren auf Anfrage Entscheidungsträger:innen, sei es in der EU, auf Bundes- oder Länderebene. Im Forschungsausschuss des Bundestages haben wir zum Beispiel Abgeordneten erläutert, wie der Academic Freedom Index funktioniert und in die politische Anwendung gebracht werden kann. Aber welchen Impact das am Ende hat, kann ich nicht valide beantworten. Immerhin scheint es Regierungen nicht egal zu sein, wie ihre Länder abschneiden. Aus einem Ministerium in Mexiko erreichte uns eine Beschwerde, weil Mexiko bei jeder jährlichen Neuberechnung negativer bewertet wurde. Es hieß, die Experteneinschätzungen müssten auf falschen Daten beruhen und wir sollten die Einschätzungen korrigieren. Diese Episode zeigt, dass der AFI von Regierungen wahrgenommen wird und eine gewisse Reputationslogik entwickelt hat.
Kinzelbach: Da wir mit dem AFI ein wissenschaftlich fundiertes Instrument geschaffen haben, erreichen uns in der gegenwärtigen Weltlage vielfältige Anfragen. Unser Fokus liegt immer darauf, zunächst die Methodik zu erklären und die Daten einzuordnen. Denn manchmal wird in die Daten etwas hineininterpretiert, was sie gar nicht hergeben.
Gerade bei Ländern, die nicht täglich in den Medien stehen, bietet der Academic Freedom Index eine erste Orientierung.
Natürlich werden wir auch oft gefragt, was wir vorschlagen, um die Wissenschaftsfreiheit zu schützen. Dann müssen wir unsere Rolle als Forschende verlassen und in die Politikberatung gehen. Wir machen dabei immer klar, was wir auf der Basis unserer eigenen Expertise als Orientierungswissen anbieten und was wir mit den Daten konkret belegen können – oder eben auch nicht. Einfache Patentrezepte können wir nicht anbieten. Aber wir haben durch unsere Forschung Determinanten bestimmt, warum die Wissenschaftsfreiheit in einigen Kontexten gut geschützt ist und in anderen abnimmt.
Lott: Neben Anfragen aus der Politik wollen sich auch Institutionen beraten lassen, wie sie Risiken bei der Kooperation mit schwierigen Partnerländern minimieren können. Auch wissen wir, dass bei Förderentscheidungen, wo es darum geht, bedrohte Forschende zu unterstützen, auf den Index geguckt wird. Alle wissen, wie es um die Wissenschaftsfreiheit in China oder den USA oder Indien bestellt ist, aber gerade bei Ländern, die nicht täglich in den Medien stehen, bietet der Academic Freedom Index eine erste Orientierung.
Welche Empfehlungen geben Sie denn, um Kooperationsrisiken zu minimieren?
Kinzelbach: Der Index sollte aber nicht als Instrument herangezogen werden, um wissenschaftliche Kooperationen von vornherein auszuschließen. Jüngst wurden wir zum Beispiel gefragt, was die Ausweitung des Forschungsprogramms Horizon Europe auf Ägypten bedeutet, das im Index sehr schlecht abschneidet. Ein schlechtes Ranking im AFI heißt jedoch nicht per se, dass das eine No-Go-Zone für Kooperationen ist.
Lars Lott ist seit 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der FAU. Er ist Projektkoordinator für das gemeinsame Forschungsprojekt mit dem Varieties of Democracy Institute (V-Dem) an der Universität Göteburg in Schweden zum AFI.
Ein schlechtes Ranking im Academic Freedom Index heißt nicht per se, dass das eine No-Go-Zone für eine Kooperation ist.
Wenn die Wissenschaftsfreiheit signifikant eingeschränkt ist, und das nicht nur Individuen zu spüren bekommen, sondern auch Institutionen, dann sollte zunächst diskutiert werden, ob eine Kooperation auf institutioneller Ebene überhaupt erstrebenswert ist. Oder sind die Institutionen in dem Land vielleicht schon so stark kontrolliert, dass man riskiert, von hochrepressiven Regimen instrumentalisiert zu werden.
Wenn wir über individuelle Kooperationen sprechen, in Projekten oder im persönlichen Austausch, dann haben wir eine völlig andere Debatte. Insofern würde ich keine pauschalen Aussagen machen, außer eben, dass ein schlechtes Abschneiden auf dem Academic Freedom Index nicht zu der Einstellung von wissenschaftlicher Kooperation führen sollte.
Welche Wirkung würden Sie dem Academic Freedom Index noch wünschen?
Kinzelbach: Ich möchte mit einem kurzen Exkurs zum Thema "Wirkung" antworten. Unser Projekt ist eines, an dem man das beispielhaft diskutieren kann. Wir freuen uns über die wachsende Sichtbarkeit in außerwissenschaftlichen Kreisen, müssen unser öffentliches Engagement aber in Balance bringen mit dem Zeitbudget für eigene Forschung.
Die Frage, welchen Nutzen das Projekt für die Gesellschaft hat, fordert die Eigenlogik der Wissenschaft heraus und verlangt von uns Forschenden, uns in nichtwissenschaftlichen Kategorien zu erklären. Das ist eine Streitfrage, die bis in die Wissenschaftsfreiheit hineinwirkt. Welche nicht genuin wissenschaftlichen Aspekte sollen Forschende in der Organisation ihrer Arbeit, in der Auswahl ihrer Forschungsfelder berücksichtigen?
Lott: Unsere vorrangige Aufgabe ist es, mit den Daten zu arbeiten und wissenschaftliche Ergebnisse zu produzieren. Erst danach stellt sich die Frage, wie wir mit den Ergebnissen in die Gesellschaft hineinwirken. Die Daten sprechen nicht für sich selbst, sondern müssen kontextualisiert werden, damit sie in gesellschaftlichen Debatten informieren können und so Impact haben.
Kinzelbach: Wirklich verlässliche Wirkung hat ein Forschungsprojekt nur, wenn es ein solides Forschungskonzept hat und seine Methodik wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Das solide Fundament des AFI trägt sicher dazu bei, dass wir inzwischen international wahrgenommen werden.
Kürzlich habe ich einen Anruf von der New York Times erhalten. Da dachte ich kurz, wow! Auch sind wir von Kolleginnen und Kollegen in den USA gefragt worden, ob wir sie beraten könnten, welche Daten zur Wissenschaftsfreiheit in den USA man jetzt sammeln sollte. Wenn unser Projekt in der Debatte über Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit in den USA einen gewissen Einfluss entfaltet, würde uns das sehr freuen. Aber klar ist auch: ein Index kann die Wissenschaftsfreiheit nicht retten. Wir können nur vergleichend sichtbar machen, wie sie sich weltweit entwickelt.