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Von Bürger:innenräten bis Feminismus auf TikTok – Taskforces untersuchen Demokratien im Wandel

#Wissenschaft und Gesellschaft

Tina Walsweer

In einer Kunstaktion stehen Menschen auf einer Fibonacci-Folge auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude in Berlin

Mit einer Kunstaktion will der Verein Mehr Demokratie auf die Notwendigkeit neuer Formen demokratischer Mitgestaltung hinweisen, bspw. im Form von Bürgerräten, um den aktuelle Herausforderungen entgegenzutreten.

Für eine Wissenschaftslandschaft mit unabhängiger und ergebnisoffener Forschung ist die liberale Demokratie eine Grundvoraussetzung. Wie aber können wir unsere demokratischen Strukturen schützen? Und welchen Gefahren sind sie ausgeliefert? Zehn neu geförderte Forschungsprojekte widmen sich diesen und weiteren hochaktuellen Fragen der Demokratieforschung.

Dass eine Demokratie unter Druck gerät, kann schleichend und fernab der öffentlichen Wahrnehmung über Jahre oder Jahrzehnte fortschreiten. Ein konkreter Auslöser ist auf den ersten Blick nicht zwangsläufig erkennbar. Wie aber lässt sich die Ursache dieses disruptiven Prozesses ausmachen – und auf Basis dieser Erkenntnis gegensteuern? Wie kann die Wissenschaft politische Handlungsempfehlungen für die drängenden gesellschaftspolitischen Fragen in der gebührenden Eile generieren, um die Ordnung, in der wir leben, zu erhalten?

Unsere Gesellschaft ist wehrhaft und nicht bereit, das Untergraben ihres Fundaments durch antidemokratische Strömungen hinzunehmen. Das beweisen die vielen Demonstrationen und Kundgebungen, die derzeit fast täglich deutschlandweit stattfinden. Welche Auswirkungen aber hat zivilgesellschaftliches Engagement auf die Transformation der Gesellschaft? Wie lässt sich das Bewusstsein der Öffentlichkeit für antidemokratische Tendenzen weiter schärfen? Öffentliche Beteiligung bei wissenschaftlicher Forschung aktiv einzufordern, könnte auf diesem Forschungsfeld nicht nur gewinnbringend sein, sondern schlussendlich auch die Akzeptanz der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen fördern. Welche Kooperationsformate sind hier erfolgversprechend? Und welche Kommunikationsformate sind denkbar, um die Kernbotschaften komplexer wissenschaftlicher Erkenntnisse möglichst allgemeinverständlich in der Gesellschaft zu platzieren?

Transformationswissen über Demokratien im Wandel – transdisziplinäre Perspektiven

Mit diesem Förderangebot möchte die Stiftung  Wissenschaft und (zivil)gesellschaftliche Akteure zusammenbringen, um neue Perspektiven auf gesellschaftliche Transformationsprozesse von Demokratie zu ermöglichen. 

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In der Förderinitiative "Transformationswissen über Demokratien im Wandel – transdisziplinäre Perspektiven" hat die Stiftung jetzt für 10 sog. Taskforces rund 1,9 Mio. Euro bewilligt. In diesem Förderformat bearbeiten Akteur:innen aus Wissenschaft und (Zivil-)Gesellschaft eine Fragestellung zu akuten Herausforderungen von Demokratie in Deutschland oder auf EU-Ebene  – und zwar innerhalb eines Jahres, also jenseits des üblichen Forschungstempos. Als Ergebnis werden konkrete Handlungsempfehlungen veröffentlicht – und die Teams treten über diese Empfehlungen aktiv in den Austausch mit relevanten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteur:innen. Zudem liegt der Stiftung inzwischen eine hohe zweistellige Anzahl an Anträgen für längerfristig angelegte Kooperationsprojekte zwischen Wissenschaftler:innen und Partner:innen aus der (Zivil-)Gesellschaft vor, die nun begutachtet werden. Die Resonanz auf dieses einzigartige Förderangebot in der deutschen Wissenschaftslandschaft war durchweg positiv, ebenso die Qualität und Kreativität der eingereichten Anträge. Die jetzt bewilligten Vorhaben der Teams aus Wissenschaftler:innen und Praxispartner:innen aus der Gesellschaft hat eine enorm große Bandbreite:

  • In dem Projekt "Shaping Democracy: Institutionalizing Citizens' Assemblies in Germany" widmet sich Dr. Felix Petersen von der Universität Münster mit Prof. Dr. Daniela Winkler, Universität Stuttgart, sowie dem Verein Mehr Demokratie der Frage, ob und – wenn ja – wie sich Bürger:innenräte dauerhaft in das politische System einbinden lassen. Bislang sind sie nur vereinzelt und mit zeitlicher Begrenzung zu finden. Die Forschenden wollen nun die Institutionalisierung von Bürger:innenräten durch die Verbindung von politik- und rechtswissenschaftlichen Aspekten sowie hinsichtlich praktischer Partizipationskompetenz untersuchen.
Man sieht Wahlzettel auf verschiedene Stapel sortiert

Im Projekt NurtureDEMOS stehen Einflüsse von Rechtsaußen auf die Landtags- und Kommunalwahlen 2024 in Ostdeutschland im Fokus.

  • In ihrem Forschungsvorhaben "Nurturing Democratic Resilience among Youth to Counter Far-Right Influence in the Eastern German Elections 2024 (NurtureDEMOS)" nehmen Dr. Anna-Sophie Heinze und Prof. Dr. Eva Walther von der Universität Trier zusammen mit dem Verein Aktion Zivilcourage die Rolle der Zivilgesellschaft und die der lokalen Ebene bei der Bekämpfung von Rechtsaußen-Einflüssen in den Fokus. Konkret wollen sie im Rahmen der Landtags- und Kommunalwahlen 2024 in Ostdeutschland den wachsenden Einfluss von Rechtsaußen-Parteien und dabei insbesondere den der "Alternative für Deutschland" (AfD) auf junge Wähler:innen und Erstwähler:innen untersuchen. Auch die Förderung demokratischer Werte bei jungen Menschen ist ein Aspekt ihres Vorhabens.
  • In dem Projekt "Political Polarization and Journalistic Practices: Adding Fuel to the Fire?" werden Prof. Dr. Michael Brüggemann von der Universität Hamburg, Dr. Anamaria Dutceac Segesten und Dr. Mike Farjam von der Lund University sowie Journalist:innen von DIE ZEIT, Swedish Public Radio und Sydsvenska Dagbladet die Rolle der Medienberichterstattung für eine Polarisierung von Debatten untersuchen, für die die Medienberichterstattung oft mitverantwortlich gemacht wird. Unter anderem soll ein Leitfaden entstehen, der evidenzbasierte Empfehlungen dazu auflistet, wie Journalismus gegen eine Polarisierung von Debatten angehen könnte.
  • In dem Vorhaben "Pop-Up Citizen Lab: Social Acceptance of Urban Innovations" von Prof. Dr. Christoph Bieber vom Center for Advanced Internet Studies in Düsseldorf zusammen mit Kooperationspartner:innen der Stadt Bochum steht die kommunale politische Ebene mit Blick auf die Einführung von urbanen Innovationen wie Smart-city-Infrastrukturen und Umweltentwicklung im Mittelpunkt. Denn das nachlassende Vertrauen in und Kritik von öffentlichen Institutionen beginnt oft im lokalen Bereich und breitet sich von dort in die gesamte Gesellschaft aus. Dazu sollen sogenannte "Pop-up Citizen Labs" (Stadt- bzw. Bürger:innenlabore) entstehen, in denen bspw. Bürger:innen gruppenweise verschiedene Aufgaben bearbeiten.
Apps auf einem Smartphone-Display sind sichtbar, im Zentrum die App TikTok

TikTok ist ein soziales Netzwerk für kurze Videoclips.

  • In ihrem Projekt "Unlearning Anti-Feminism on TikTok. Open Educational Resources and Recommendations for Actions for Political (Media-)Education" nimmt Prof. Dr. Michaela Kramer zusammen mit Prof. Dr. Franziska Bellinger von der Universität Köln und Partner:innen von medialepfade.org – Verein für Medienbildung das Phänomen zum Ausgangspunkt, dass sich antifeministische Diskurse aus dem rechten Spektrum zunehmend als vermeintlich harmlose Lifestyle-Formate auf der Social-media-Plattform TikTok präsentieren. Ziel ist es, offene Bildungsmaterialen und Handlungsempfehlungen für die Bildungsarbeit zu erstellen und somit Jugendliche im Rahmen von präventiven Angeboten in ihrer digitalen Souveränität und Handlungsfähigkeit zu stärken.
  • Dr. Alexander Leistner von der Universität Leipzig kooperiert in seinem Forschungsvorhaben "Ways across the Country – Democracy in Transforming Landscapes" mit drei überregional berichtenden Journalist:innen, die für mehrere Monate zur Berichterstattung nach Brandenburg, Sachsen und Thüringen reisen, da dort bei den anstehenden Wahlen ein Erfolg rechter Parteien und eine demokratische Erosion drohen. Sie sollen durch die Nähe zur Bevölkerung und den engen Kontakt zu zivilgesellschaftlichen Partner:innen in ländlichen Regionen Stimmungen, Sorgen und Nöte sowie den Wandel der sozialen und politischen Landschaften erkunden. Die entstehenden Berichte sollen eine Perspektive abseits der "üblichen" Medienberichterstattung bieten.
  • Prof. Boris Müller von der Fachhochschule Potsdam möchte in dem Forschungsprojekt "Transdisciplinary Legal, Public Policy, and Design Research on Immersive Phygital Public Spaces in Smart Cities" in Kooperation mit Dr. Tehilla Altshuler und Dr. Rachel Aridor-Hershkovitz, Israel Democracy Institute, und Dr. Romi Mikulinsky, Bezalel Academy of Arts and Design, beide Jerusalem, mithilfe von Design-Methoden politische Prozesse begleiten und den öffentlichen Diskurs befördern. Durch bspw. Datenvisualisierung, Co-Design und spekulatives Design soll der "phygitale" (also physische und digitale) Bereich im öffentlichen städtischen Raum nicht nur aus akademischer Sicht, sondern auch aus einem politik-relevanten Blickwinkel untersucht werden.
  • In dem Projekt "AI used by the state: Safeguarding autonomy and human rights with transparency to citizens and support for public servants" will Dr. Jonas Botta vom Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer zusammen mit dem Verein NExT und AlgorithmWatch einen tragfähigen Rahmen für ein KI-Transparenzregister und rechtliche Anforderungen für dessen Umsetzung entwickeln. Die Forschenden sehen den Bedarf einer umfassenden politischen und zivilgesellschaftlichen Debatte über den staatlichen KI-Einsatz. Denn durch die rasche Einführung von KI-basierten Systemen in der öffentlichen Verwaltung kommen ethische und rechtliche Fragen aber auch auf die Integrität demokratischer Gesellschaften und der Rechtsstaatlichkeit insgesamt auf.
Menschen sitezen in einem Raum und stimmen per Handzeichen über eine Entscheidung ab

Der Bürgerrat Demokratie in Leipzig stimmt ab.

  • Dr. Sebastian Ziaja vom GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Köln will im Rahmen seines Vorhabens "A Next-Generation Randomised Citizen Council for Encouraging Political Participation at the Local Level (NexCiCo)" mit Partner:innen von der Initiative Offene Gesellschaft einen zufällig ausgewählten Bürger:innenrat in einer ländlichen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen implementieren und dessen Einfluss auf das politische Klima ermitteln. In dieser Gemeinde steht eine Entscheidung über die Zukunft der örtlichen Veranstaltungshalle an, bei der der Bürger:innenrat beratend wirken soll. Er wird flankiert mit Beteiligungsangeboten wie "Meinungsautomaten" und den Austausch in den sozialen Medien. Das Projekt soll bspw. die Frage beantworten, ob ein zufällig ausgewähltes, deliberatives Gremium einen Kompromiss finden kann, der von der Bevölkerung und der Politik getragen wird.
  • In dem Forschungsvorhaben "Testimonial Lab – Exploring modes of articulation in deep societal conflict" wollen Priv.-Doz. Dr. Hans-Jörg Sigwart, Prof. Dr. Roger Häußling und Dr. Raphaela Kell von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Theater Aachen einen Rahmen zur Unterstützung von "Testimonial-Dialogen" erproben und entwickeln, um gemeinsame Grundlagen für den demokratischen Austausch in Situationen zu schaffen, in denen sie erodieren oder (noch) fehlen. Eine solche Situation liegt im sog. "Rheinischen Revier" vor, da dort durch den Klimawandel und den Kohleausstieg bedingte Transformationsprozesse ein Umfeld entstanden ist, in dem es tiefgreifende und verhärtete gesellschaftliche Konflikt zu bewältigen gilt.

Demokratien im Wandel als stetig begleitendes Thema

Die VolkswagenStiftung misst dem Schutz der Demokratie und der Wissenschaft einen hohen Stellenwert bei. Das Engagement in Forschung über Demokratien wird nicht nur an den jüngsten Förderungen sichtbar. Auch findet vom 26. bis 28. Februar 2024 ein Vernetzungsworkshop "Transformationswissen über Demokratien im Wandel" statt. Mit diesem Workshop in Hannover bietet die Stiftung einen Raum für die Vernetzung von Wissenschaftler:innen und (zivil-)gesellschaftlichen Akteur:innen sowie für die Entwicklung erster Ideen für gemeinsame transdisziplinäre Forschung. Die Veranstaltung ist eine Unterstützungsmaßnahme für die Antragstellung im Programm "Transformationswissen über Demokratien im Wandel - transdisziplinäre Perspektiven" zu den Stichtagen für Taskforces (voraussichtlich Herbst 2024) und Kooperationsprojekte (1. Halbjahr 2025).

Zudem werden am 4. und 5. November 2024 die in den Taskforces in der Förderinitiative "Transformationswissen über Demokratien im Wandel" geförderten Forschenden sowie ihre außerwissenschaftlichen Praxispartner:innen in Schloss Herrenhausen zusammenkommen und in einem Forum erste Ergebnisse präsentieren. Flankiert wird das Forschendenforum von einer öffentlichen Abendveranstaltung am 5. November.

Darüber hinaus wird es am 26. November 2024 ein Herrenhausen XChange zum Thema "Was kann ich als Individuum in Zeiten (vermeintlicher) Polarisierung in meinem Umfeld tun?" geben, das sich ebenfalls an die Öffentlichkeit wendet.

Wissenschaftsfreiheit schützen!

Ihr Engagement zum Schutz der Demokratie und der Wissenschaftsfreiheit bekräftigt die VolkswagenStiftung in einem ausführlichen Statement.