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"Mini-Deutschland" für mehr Demokratie  

#Demokratie

Autorin: Julie Milch

Eine große Gruppe Menschen steht zu einem Gruppenfoto zusammen

Gruppenbild der Teilnehmenden des Bürgerrates „Ernährung im Wandel“ mit Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in der Mitte am 14. Januar 2024 im Berliner Paul-Löbe-Haus.
 

Bürger:innenräte können das schwindende Vertrauen in die Demokratie stärken. Davon ist der Politologe Dr. Felix Petersen von der Universität Münster überzeugt. In einem transdisziplinären Forschungsprojekt untersucht er mit seinen Projektpartner:innen, wie solche Gremien im politischen Prozess integriert werden können. 

"Bürgerräte sind Orte, an denen Entscheidungen aus Perspektive der Bürgerinnen und Bürger gedacht werden können", erklärt Dr. Felix Petersen, Politikwissenschaftler an der Universität Münster. Seit Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere setzt er sich mit Demokratie und Beteiligung auseinander. Bei einem Vernetzungsworkshop der VolkswagenStiftung 2023 lernte er Dr. Florian Wieczorek vom Verein "Mehr Demokratie" kennen. Schnell merkten sie, dass sie ähnliche Fragen beschäftigen. 

Zu dieser Zeit hatten Bürger:innenräte ein gewisses Momentum: zwischen 2021 und 2023 wurden sie vermehrt auch auf Bundesebene eingerichtet, unter anderem von der Ampel-Regierung. Petersen und Wieczorek taten sich mit der Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Daniela Winkler von der Universität Stuttgart zusammen. In ihrem Projekt "Shaping Democracy: Institutionalizing Citizens’ Assemblies in Germany" untersuchen sie, wie Bürger:innenräte permanent in die politische Entscheidungsfindung eingebunden werden können.

Transdisziplinäre Zusammenarbeit 

"Wenn wir wirklich darüber nachdenken wollen, wie demokratische Prozesse institutionalisiert werden können, brauchen wir Expertise aus dem Recht und aus der Politikwissenschaft. Aber auch das Wissen darüber, wie wir die Ergebnisse im Anschluss in die Gesellschaft reintragen können", fasst Petersen zusammen. Als transdisziplinäre Taskforce werden sie in der Förderinitiative "Transformationswissen über Demokratien im Wandel" mit knapp 198.000 Euro von der Stiftung unterstützt.

Ihr Ziel: Ende des Jahres wollen sie ihre Erkenntnisse und Empfehlungen gebündelt in einem Politikpapier Entscheidungsträger:innen zur Verfügung stellen.
Beobachten konnte das Projektteam bereits, dass die Anzahl der eingesetzten Bürgerräte konstant bleibt, auf einzelnen Ebenen sogar zunimmt. So werden mittlerweile auch vermehrt Bürger:innenräte auf Landesebene geplant, aktuell beispielsweise in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg. 

Portrait eines Mannes mit Bart und Brille

Dr. Felix Petersen forscht am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster.

Frau steht vor einer Wand voll bunter Karteikarten mit notierten Gedanken

Bürger:innenrat: Beratendes Gremium auf Zeit

Ein Bürger:innenrat ist eine Gruppe von Menschen, die per Los ausgewählt werden, um sich zu einer Frage oder einem Thema auszutauschen. Die Zusammensetzung soll die Gesellschaft nach bestimmten Merkmalen wie Alter, Bildungsgrad oder Geschlecht repräsentieren. Innerhalb des Gremiums tauschen sich die Mitglieder aus und formulieren anschließend Handlungsempfehlungen. Wie es anschließend weitergeht, hängt vom Auftrag des Bürger:innenrats ab. Sie können auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene eingerichtet werden. Anders als beispielsweise in Irland sind Bürger:innenräte in Deutschland immer ergänzend zu verfassungsrechtlich festgelegten Entscheidungsverfahren.

Auf Bundesebene wurde 2023 erstmals ein Bürger:innenrat durch den Bundestag eingerichtet, 160 per Los ausgewählte Menschen tauschten sich zum Thema "Ernährung im Wandel" aus. Sie kamen aus 62 Städten und Gemeinden in ganz Deutschland, bezogen auf Alter, Geschlecht und Schulabschluss, Ortsgrößen sowie Bundesländer spiegelten sie die Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung wider. Ein "Mini-Deutschland" wie Petersen es nennt. Ihre neun Empfehlungen waren im Anschluss die Grundlage einer Plenardebatte im Bundestag, kurz bevor die Ampel-Koalition zerbrach. Möglicherweise greifen Politiker:innen der neuen Koalition oder Mitglieder in den Bundestagsausschüssen sie erneut auf. 

Bürger:innenrat als Beteiligungsangebot

Neben der bloßen Anzahl der Bürger:innenräte sei ein Trend zur Verstetigung zu erkennen: Beispielsweise habe Konstanz 2024 die Möglichkeit eingeführt, das 800 Einwohner:innen per Petition einen Bürger:innenrat beauftragen können. Hamburg habe als einziges Bundesland noch nie einen abgehalten, was die aktuelle Regierung jedoch ändern will. 2024 hat die Hamburger Bürgerschaft mit dem Zufallsbeteiligungsgesetz die Grundlage dafür gelegt.

In den Untersuchungen falle auf, dass das Werkzeug Bürger:innenrat als Element zur Beteiligung von Bürger:innen in den neuen Bundesländern insgesamt seltener genutzt werde als in den alten. "Da sehen wir schon ein Problem. Wenn in den neuen Bundesländern die Politikverdrossenheit per se schon größer ist und die Menschen sich nicht repräsentiert fühlen, fehlt ihnen hier eine weitere Möglichkeit an Politik teilzuhaben," erklärt Petersen.

Drei runde Tische, an denen jeweils eine kleine Gruppe Menschen miteinander spricht

Beim Bürger:innenrat "Ernährung im Wandel" diskutierten die Teilnehmer:innen auch in Kleingruppen.  

14 Bürger:innenräte, die zwischen 2015 und 2025 auf nationaler Ebene eingesetzt wurden, hat das Team genauer untersucht. Eine Zahl, die viele überraschen dürfte. Denn von Bürger:innenräten bekommen häufig nur diejenigen etwas mit, die selbst involviert sind. Das fehlende Wissen über solche Gremien in der Bevölkerung ist ein Problem, welches den Forschenden bewusst ist, das sie im Rahmen dieses Projekts allerdings nicht bearbeiten. Eine höhere Sichtbarkeit für die Arbeit von Bürger:innenräten sei wünschenswert. So zeigen laut Petersen Studien, dass die Menschen solche Gremien akzeptieren, über deren Arbeit sie informiert sind.

Einen Bürger:innenrat hat Petersen zu Forschungszwecken bei seinen Sitzungen vor Ort verfolgt; teilnehmende Beobachtung nennt sich die Methode. Ursprünglich sollte es der Bürger:innenrat auf Bundesebene sein, welchen die Ampel-Regierung einrichten wollte. Doch bevor es dazu kommen konnte, zerbrach die Regierung und der Rat fand nicht statt. Ein weiteres Vernetzungstreffen der Stiftung 2024 bot die Lösung: Dort lernte Petersen eine Forscherin aus der Taskforce „NexCiCo“ statt. Deren Team richtete einen Bürger:innenrat auf kommunaler Ebene ein, den Petersen begleiten konnte. Im Juli diesen Jahres folgte ein gemeinsamer Workshop zur Frage „Wie können wir unsere Demokratie weiterentwickeln und responsiver machen?“ mit weiteren Projekten und Vertreter:innen aus Politik, Gesellschaft und Verwaltung.

Positive Politikerfahrung 

Petersens zentrale Erkenntnis durch seine Beobachtung im Bürger:innenrat: Viele Beteiligte haben eine positive politische Erfahrung durch ihre Teilnahme an dem Gremium. Sie gehen in den Austausch mit andersdenkenden Menschen, können Prozesse der Entscheidungsfindung besser nachvollziehen und bekommen ein Gefühl, dass ihre Meinung gehört werde. "Diese positiven politischen Erfahrungen müssen zunehmen", sagt er.  

Illustration mit mehreren demonstrierenden Menschen mit Schildern mit "Daumen hoch" oder "Daumen runter" Symbolen

Transformationswissen über Demokratien im Wandel – transdisziplinäre Perspektiven

Das Programm richtet sich an Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaftler:innen, die in transdisziplinären Teams mit außerwissenschaftlichen Partner:innen unterschiedliche Ideen und Fragestellungen zu Demokratie im Wandel bearbeiten möchten. 

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In Deutschland gibt es auf nationaler Ebene zwei Typen von Bürger:innenräten: sowohl staatlich organisierte, entweder durch Ministerien oder bisher einmalig dem Bundestag, als auch zivilgesellschaftliche. Der Projektpartner Mehr Demokratie hat bereits mehrere initiiert. Nach Ansicht des Projektteams können Bürger:innenräte zeigen, wie die Gesellschaft nach einer informierten und inklusiven Debatte zu komplexen und emotional aufgeladenen Themen wie Steuerverteilung oder Schwangerschaftsabbrüche stehen könnte. Daher eignen sich Bürger:innenräte auch als Mittel der Zivilgesellschaft, um Diskussionen breiter zu führen, so Petersen. Die juristische Prüfung zeigt, dass es verschiedene Wege gibt, solche Gremien als Baustein im politischen Prozess zu institutionalisieren. Damit können Bürgerratsprozesse auch konkret an der politischen Entscheidungsfindung beteiligt werden.

Das Projektteam ist sich sicher, dass sich etwas am politischen Entscheiden ändern muss, wenn die Demokratie erhalten bleiben soll. "Eine der zentralen Fragen ist doch, wie die Bevölkerung stärker in die Regelfindung eingebunden werden kann? Bürgerräte stellen in meinen Augen eine Möglichkeit dar. Ich glaube, solche Gremien würden weitere Demokratisierungsschritte ermöglichen. Und sie könnten politische Entscheidungen verbessern und deren Legitimität steigern." Ende des Jahres will das Projektteam Vorschläge präsentieren, welche nächsten Schritte notwendig sind, um Bürgerratsprozesse zu verstetigen und neue Möglichkeitsräume für demokratisches Entscheiden zu öffnen.

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