Wandel oder Umbruch: Wohin entwickelt sich das Parteienspektrum in Deutschland und Europa?
#DemokratieWie sich das Parteienspektrum in Deutschland und europaweit wandelt und ob ein Umbruch bevorsteht, diskutierten am 19. Juni 2025 die Podiumsteilnehmenden der Leopoldina Lecture im Schloss Herrenhausen. Sie blickten auf den wachsenden Zuspruch für populistische Parteien, Bedrohungen für den Staat und die Frage danach, wie ihnen zu begegnen ist.

Mitschnitt der Veranstaltung vom 19.6.
"Bei keiner anderen politischen Instanz ist die Diskrepanz zwischen Reputation und Relevanz seit jeher so groß, wie bei den Parteien", stellt eingangs der Sozialwissenschaftler und ehemalige Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert fest. Als Agenturen demokratischer Willensbildung seien sie so unverzichtbar wie unbeliebt. Diskussionen um Unzulänglichkeiten politischer Parteien seien insofern zwar "aktuell, aber nicht neu".

Der ehemalige Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert bescheinigt allen Beteiligten des deutschen Parteiensystems ein gemeinsames Bewusstsein für die Verantwortung, Stabilität zu wahren.
Verantwortung für Stabilität
Als langjähriger Politikprofi und -beobachter bescheinigt Lammert allen Beteiligten des deutschen Parteiensystems aber auch ein gemeinsames Bewusstsein für die Verantwortung, Stabilität zu wahren. "Diese Verantwortung ist meines Erachtens die größte Errungenschaft der heutigen Parteienlandschaft gegenüber derjenigen der Weimarer Republik", sagt er. Stabilität gewährleiste der verfassungsrechtliche Rahmen, in dem Parteien sich bewegen. Die Erwartungen der Wählenden hingegen veränderten sich im Laufe der Zeit. "Da von ihnen die Zustimmung für die Volksparteien und die politische Mitte abhängt, müssen die Parteien Veränderungen in der Gesellschaft in beide Richtungen vermitteln - hinein in die politischen Entscheidungsorgane und aus denen zurück in die Gremien."
Restrukturierung entlang soziokultureller Linien
Prof. Sarah Engler blickt als Vergleichende Politikwissenschaftlerin auf die Parteienlandschaft Europas. Die Anzahl relevanter Parteien sei in allen Staaten gestiegen, sagt die Professorin der Leuphana Universität Lüneburg. Wählende seien heute eher bereit, auch junge Parteien zu wählen und die Beliebtheit von Parteien an den Rändern des Spektrums steige. Während sich dabei früher Parteien vorwiegend entlang der Frage nach 'Umverteilung' gegenüber 'freier Marktwirtschaft' ausrichteten, stünden sie heute für eine Vielzahl von Einzelthemen - von der Migration über Diversität bis zu Umweltthemen.
Diese Restrukturierung des Parteienspektrums entlang soziokultureller, wertebasierter Linien habe in den 1980er-Jahren eingesetzt. Mit dem steigenden Wohlstand sei auch das Streben nach individueller Autonomie, Selbstverwirklichung und Emanzipation in den Gesellschaften gewachsen. In den 90er Jahren hätten die ersten Erfolge rechtspopulistischer Parteien eingesetzt. "Heute hat quasi jedes europäische Land mindestens eine solche Partei."
Am Beispiel von Ungarn oder - jenseits Europas - in den USA könne man nun den negativen Einfluss des zunehmenden Rechtspopulismus auf die Qualität der Demokratie beobachten. "Die Frage danach, was Demokratie ist, wird selbst zum politischen Konflikt: Ist die uneingeschränkte Macht eines Präsidenten demokratisch? Oder haben Gerichte doch noch etwas zu sagen?"
Europa "passt nicht allen"
Ob der Zulauf zu populistischen Parteien eine Reaktion auf immer progressivere Strömungen in den Gesellschaften sei, oder eher eine Folge großer Umwälzungen und Unsicherheiten, bleibt laut Engler bisher eine unbeantwortete Frage. "Beide Theorien erklären den Aufstieg rechtsradikaler Parteien wie man ihn zum Beispiel im Rustbelt der Vereinigten Staaten oder im Ruhrgebiet beobachten kann", sagt sie.

Um Tendenzen, Wandel oder Umbruch in Parteisystemen festzustellen, brauche es auf jeden Fall lange Beobachtungszeiträume, so Politikwissenschaftler Prof. Thomas König.
Man könne sich aber fragen, was zuerst komme, meint der Politikwissenschaftler Prof. Thomas König von der Universität Mannheim: "Ändert sich zuerst die sozioökonomische Situation der Wählerschaft? Oder zwingen institutionelle Transformationen der Parteiensysteme die Wählenden quasi dazu, andere Wahlentscheidungen zu treffen?" Eine ungelöste Henne-Ei-Frage, sagt König - "mit Wechselwirkungen zwischen beiden Entwicklungen." Um Tendenzen, Wandel oder Umbruch in Parteisystemen festzustellen, brauche es auf jeden Fall lange Beobachtungszeiträume.
König beobachtet seit den 1990er-Jahren eine Differenzierung im Parteienspektrum, die mit der Integration Europas einhergeht. Zu der links-rechts Achse der Positionierung von progressiv bis konservativ sei eine zweite Achse von pro- bis anti-integrationistisch hinzugekommen. Er beschreibt die Gründe dafür: "Im Zuge der europäischen Integration wurden immer mehr sensible Verantwortungsbereiche auf EU-Ebene gelegt, ein supranationales Gesetzesvorschlagsmonopol eingerichtet und europäische Normen über nationale priorisiert", sagt er. "Das passt nicht allen."
Die Themen, um die Parteien streiten, seien dabei fast beliebig. "In der pro- / anti-integrationistischen Dimension ist die Konkurrenz eher emotional begründet", so König. Jüngere oder neue Parteien stellten sich häufig anti-europäisch auf. Die etablierten Parteien positionierten sich eher pro-integrationistisch und zeigten ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen und Solidarität miteinander.

Die Anzahl relevanter Parteien sei in allen Staaten gestiegen, sagt Prof. Sarah Engler als Vergleichende Politikwissenschaftlerin mit Blick auf die Parteienlandschaft Europas.
Parteienverbot: Konjunkturpaket für Populismus?
Was können demokratische Staaten und ihre Bürger:innen tun, wenn rechtspopulistische oder extreme Parteien drohen, das System umzubauen? Dieser Frage widmet sich Prof. Anna-Bettina Kaiser, Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Grundlagen des Rechts an der Humboldt-Universität zu Berlin. "Die wehrhaften Demokratie kann auf ein ganzes Normenensemble zurückgreifen, um sich vor radikalen Umbauversuchen zu schützen", erklärt die Juristin; darunter auch das Parteiverbot. Es gebe angesichts der Geschichte Deutschlands gute Gründe, ein Verbot der AFD zu befürworten.
Gleichzeitig sei das Verbot ein Eingriff in den politischen Parteienwettbewerb, somit eine zweischneidige Waffe. Trotz des Gutachtens des Verfassungsschutzes, das der AFD ein verfassungswidriges ethisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis attestiert, sei das Verfahren kein Selbstläufer. Ob die Voraussetzungen für ein Verbot erfüllt sind, bleibt unklar und der Ausgang des Verfahrens ungewiss. Scheitert das Verbot, spielt das der Partei und ihren Anhänger:innen in die Karten.
"Und wie würden die AFD-Wähler im Falle eines Verbotes reagieren?", fragt Kaiser. "Sie werden es nicht ohne weiteres akzeptieren, ihre Einstellungen werden nicht verschwinden. Und wen wählen sie dann?" Norbert Lammert gibt zu bedenken: Nach einem Verbot der AFD würden die Mandate ihrer Abgeordneten, immerhin 151 an der Zahl, auf die anderen Parteien verteilt. Die Empörung unter AFD-Wählenden wäre absehbar riesig. "Ein erfolgreiches Verbotsverfahren wäre das größtmögliche Konjunkturpaket für die Stärkung populistischer Aufwallungen."
Gefahren populistischen Staatsumbaus
Im Zuge eines Verbotsverfahrens gegen eine Partei, die von fast einem Viertel der Wählerschaft getragen würde, könne der Druck auf das Bundesverfassungsgericht gefährlich groß werden, fürchtet zudem Anna-Bettina Kaiser. "Ohnehin sind Höchstgerichte typischerweise die ersten Opfer eines populistischen Umbaus", sagte sie. Die Sorge vor langfristigen Veränderungen im Staatssystem, die populistische Parteien in Machtpositionen bewirken können, sei für sie deshalb das Allerbeunruhigendste.

Prof. Anna-Bettina Kaiser lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin Öffentliches Recht und Grundlagen des Rechts.
"Sind populistische Parteien einmal an der Regierung, mäßigen sie sich nur äußerst selten", pflichtete Sarah Engler ihr bei. Unter anderem Beispiele aus Osteuropa belegten, dass sie eher noch radikaler würden. So war es auch bei der PiS Partei in Polen zu erleben. "Dort steht die linksliberale Regierung jetzt verzweifelt vor einem Scherbenhaufen und muss sich fragen: Wie kommen wir zurück?", schildert Anna-Bettina Kaiser. "Denn auch nach einem erneuten Umschwung können wir die Rechtsstaatlichkeit ja nicht verlassen, um zu ihr zurückzukehren."
Weniger besorgt zeigte sich Norbert Lammert. Er hält einen Umbruch des derzeitigen Parteienspektrums für "nicht sehr wahrscheinlich und schon gar nicht unvermeidbar." Lammert baut insbesondere für Deutschland auf das gemeinsame Verantwortungsverständnis der Parteien. Zudem könnten Deutschlands "verfassungsrechtliche und institutionelle Konstruktionen" im Extremfall einen Zusammenbruch verhindern.

Moderator Dr. Eckart Lohse (Frankfurter Allgemeine Zeitung) diskutierte mit Prof. Sarah Engler, Prof. Norbert Lammert, Prof. Anna-Bettina Kaiser und Prof. Thomas König (v.l.n.r.).
Dem Aufstieg vorbeugen
Ein entscheidender Faktor dafür, ob sich neue Parteien überhaupt etablieren und konsolidieren, seien die Strategien der anderen Parteien, erklärt Sarah Engler. Dabei gebe es allerdings keinen Königsweg, räumt Norbert Lammert ein. "Die prospektive Wirkung einer neuen Partei einzuschätzen, ist sehr schwierig." Sollten etablierte Parteien von eigenen Positionen abrücken, wenn auch eine neue populistische Partei diese vertritt? Oder müssen sie in Kauf nehmen, bei Bundestagsabstimmungen mit einer populistischen Partei zu stimmen? "Im Grunde können sie dabei nur an Gelände verlieren", meint Lammert.
Eine große Schwäche der Koalitionsparteien in der Ampelregierung sei gewesen, dass Wählende in Krisenzeiten den Eindruck bekommen konnten, die Machthabenden trieben Spielchen gegeneinander. "Sie erwarten aber, dass Verantwortliche in der Politik gemeinsam handeln, wenn das deutsche Wirtschaftssystem schon Schlagseite hat", sagt er. Aus Enttäuschung über das Verhalten der Koalitions-Politiker:innen, hätten sich vermutlich zahlreiche Wählende der AFD zugewandt. "Es liegt also auch an unserem eigenen Verhalten als Politiker:innen, wie wir gegen die AFD vorgehen."
Neben politischen Strategien, der AFD zu begegnen, plädiert Anna-Bettina Kaiser insbesondere dafür, soziale Medien "in der Tradition der deutschen Rundfunkordnung" stärker zu regulieren. "Wir sollten nicht alles dem privaten Wettbewerb und der Aufmerksamkeitsökonomie überlassen", meint sie. "Ist nicht jetzt der Moment, eine europäische öffentlich-rechtliche Medienplattform zu schaffen, um der starken Polarisierung Einhalt zu gebieten?"