Veranstaltungsbericht

Vom Bellen toter Hunde - Sind Heinrich Böll und Günter Grass bedeutungslos geworden?

Jens Rehländer

Zwei Experten haben das Publikum im Schloss Herrenhausen auf eine abwechslungsreiche Reise in die Zeit von Böll und Grass mitgenommen. Am Ende wundert man sich umso mehr, warum die beiden heute offenbar vergessen sind.

Illustration mit Portraitfotos von Böll und Grass, dahinter geöffnete Bücher Play Video

Videomitschnitt der Veranstaltung

"Im Buchhandel spielen beide seit Jahren keine Rolle mehr", sagt der Kulturjournalist Stephan Lohr gleich zu Beginn. Und als Zuhörer:in wundert man sich. Wie kann das sein? Jahrzehntelang waren Heinrich Böll und Günter Grass die prominentesten Repräsentanten des deutschen Literaturbetriebs. Autoren mit nie endender Bestseller-Garantie. Ihre Werke als Schullektüre kanonisiert. In Kinofilmen adaptiert. In den Medien omnipräsent. Beide mit dem Nobelpreis geehrt: Böll 1972, Grass 1999. Und die sollen heute bedeutungslos sein?

Natürlich nicht für das Publikum im Schloss Herrenhausen, nicht für Stephan Lohr und sein Pendant auf der Bühne, den Göttinger Literaturprofessor Heinrich Detering. Im eineinhalbstündigen Dialog zeichnen beide wichtige Etappen auf den Karrierewegen von Böll und Grass nach, arbeiten Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer Persönlichkeiten heraus und geben sich alle Mühe, die im Untertitel der Veranstaltung mitschwingende These positiv zu widerlegen: "Vom Bellen toter Hunde – sind Böll und Grass bedeutungslos geworden?" 

Einen Schlüsselroman über den Springerverlag hat Böll schon 50 Jahre vor Stuckrad-Barre geschrieben 

Dass Bölls Werke zeitlos sind, will Lohr dem Publikum mit einem tagesaktuellen Hinweis belegen: Just am Veranstaltungstag nämlich ist der Roman "Noch wach?" von Benjamin Stuckrad-Barre erschienen. Begleitet von einem beispiellosen Medienrummel. Die Neugier ist groß, gilt das Buch doch als intime Abrechnung des Autors mit dem Springer-Verlag und dessen Vorstandsvorsitzenden. "Vergessen Sie Stuckrad-Barre", widerspricht Stephan Lohr dem Hype. "Böll hat schon vor 50 Jahren über die Abgründe des BILD-Journalismus geschrieben. Lesen Sie lieber ‚Die verlorene Ehre der Katharina Bluhm‘. Der Text ist kürzer, besser und das Buch billiger." 

Zwei Männer sitzen hinter Schreibtischen auf einer Bühne

Literaturwissenschaftler Heinrich Detering und der Kulturjournalist Stephan Lohr diskutierten, warum Günter Grass und Heinrich Böll scheinbar bedeutungslos geworden sind. 

Beide – Lohr und Detering – haben die Literaten, über die sie an diesem Abend reden, persönlich gekannt. Lohr als Kulturredakteur beim NDR. Detering als umtriebiger Professor für Neuere deutsche Literatur. Zudem war Detering Geförderter der VolkswagenStiftung, die ihn bei der Auswertung von 50 Kartons unterstützte, die sich nach Grass‘ Tod 2015 im Archiv seines Verlegers Gerhard Steidl in Göttingen fanden. Man habe bei der Gelegenheit den "Artisten" Grass neu entdeckt, sagt Detering. Zusammen mit dem kongenialen Drucker Steidl habe Grass "analoge Kunstobjekte namens Buch geschaffen" und sich damit einen künstlerischen Lebenstraum erfüllt: die Synthese seiner schriftstellerischen, grafischen und bildhauerischen Talente.

Grass war ein Multi-Künstler, Böll eher Handwerker

Ein "Artist" sei Grass auch im Spiel mit literarischen Formen und Stilen gewesen. Im "Treffen in Telgte" etwa erweckte er den Barockstil und die Zeit des Dreißigjährigen Krieges neu. Als Autor bediente er sich aus Allegorien, Mythen und Märchen. Eine künstlerische Weitschweifigkeit, die Böll völlig abging, darin sind sich beide einig. Böll war zehn Jahre älter als Grass, ging 1945 aus der "Trümmerliteratur" hervor, blieb ein Leben lang fest in Köln verwurzelt und sah sich immer als einer, der den Alltag der sogenannten ganz normalen Menschen beschrieb – mit all ihren Selbstzweifeln, Kränkungen und Abhängigkeiten. Sein Selbstverständnis als Autor beschrieb Böll mit dem Begriff "Zeitgenossenschaft".

Ein "katholischer Anarchist" (Detering) sei Böll gewesen. Ein Kämpfer gegen Klüngel und Kumpanei in der Kirchenführung und gleichzeitig ein frommer Mann mit asketischer Lebensweise, unbestechlich, was sicher zu Bölls moralischer Autorität beigetragen habe.

Ein Mann sitzt auf einer Bühne an einem Schreibtisch

Heinrich Detering lernte als umtriebiger Professor für Neuere deutsche Literatur beide Autoren persönlich kennen.

Unbequem war Böll Zeit seines Lebens. Aber eben auch uneitel. Anders als Grass. "Es gab nichts in der Welt, wozu Grass nicht eine Meinung hatte, die er über Medien verbreitete.", sagt Detering. "Schulmeisterlich. Zunehmend nervend."  In den 1960er Jahren engagierte sich Grass für die SPD unter Willy Brandt. "Er trieb Willy Brandt in den Wahnsinn", sagt Stephan Lohr und zeigt auf den Wälzer mit 1300 Seiten Briefwechsel der beiden. Vergeblich versuchte Grass auch Böll vor den Karren der SPD zu spannen. Der Kölner wahrte seine Unabhängigkeit. Grass hingegen wäre gern Entwicklungshilfeminister geworden. "Eine groteske Selbstüberschätzung", urteilt Lohr.

Als öffentliche Schriftsteller brauchten beide ein dickes Fell

Wirkliche Freunde sind Grass, der Laute, und Böll, der Leise, nie geworden. Dafür waren ihre Persönlichkeiten zu unterschiedlich. Eines immerhin verband beide: Ihre kompromisslose Verteidigung der Freiheit, ihr Einsatz für Unterdrückte. Immer wieder reisten sie während des Kalten Krieges in die DDR, die Sowjetunion und andere Ostblockländer. Nutzten ihre Popularität, um Dissidenten den Rücken zu stärken. Vielen in Westdeutschland waren sie deshalb als "Kommunistenfreunde" suspekt. Als 1972 im SPIEGEL sein Essay "Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" erschien, geriet Heinrich Böll auch noch als Terroristensympathisant ins Fadenkreuz von Politik, Medien und Öffentlichkeit. Eine harte Zeit, in der er sogar erwog, aus Deutschland zu emigrieren.

Nach eineinhalb Stunden nostalgischer Kreuz- und Querfahrt ist die Erinnerung an Böll und Grass so lebendig wie lange nicht mehr. Gern nimmt man Leseaufträge der beiden mit nach Hause, etwa "Der Engel schwieg", ein Erzählband des jungen Böll. Oder "Vonne Endlichkait", das letzte Buch von Grass. Dass der Abend dazu beigetragen hat, Böll und Grass für nachgeborene Generationen interessant zu machen, dürfte unwahrscheinlich sein. Wir aber, die wir mit beiden aufgewachsen sind, applaudieren Detering zu dessen Schluss-Anekdote: Als Deutschland sich nach Schillers Tod stritt, ob der Verblichene oder aber Goethe der jeweils größte Dichter der Nation sei, habe Goethe genervt geäußert: "Seid doch froh, dass ihr beide habt." Ja, es war gut, dass wir Böll und Grass hatten.

Buchtipp:

Die VolkswagenStiftung hat die Erschließung des gestalterischen Grass-Nachlasses gefördert, der sich nach dessen Tod 2015 im Steidl Verlag, Göttingen befand. Das Ergebnis wurde 2022 in diesem Band mit vielen Abbildungen dokumentiert:
Heinrich Detering, Katrin Wellnitz, Lisa Kunze: Günter Grass als Buchkünstler, 336 Seiten. Steidl Verlag, Göttingen. 

Ein Mann sitzt auf einer Bühne an einem Schreibtisch

Günter Grass trieb Willy Brandt in den Wahnsinn, sagt Kulturjournalist Stephan Lohr. 

Gespräch zwischen