Ein Mann und eine Frau diskutieren vor einer Wand mit angepinnten Notizen
Story

Dem Verhältnis von Macht und Geld auf der Spur

Autor: Jens Rehländer

Politikwissenschaftlerin Andrea Binder macht bei ihrer Forschung gern den Realitätscheck – und ihr ist wichtig, dass ihre Erkenntnisse in der Realität ankommen. Dazu setzt sie auf Austausch. 

"Die Welt ist komplizierter als sie Forschende in ihren Modellen darstellen", sagt Andrea Binder und blickt dabei konzentriert auf das Croissant, das sie gerade in Häppchen zupft. Aus ihrer Arbeit kennt sie beides: die soziale Wirklichkeit in einer extrem ungleichen Welt – und die Statistiken der Sozialwissenschaft, in denen sich der Alltag der Menschen allzu häufig in abstrakten Zahlen auflöst.  

Dieses Spannungsfeld zwischen erlebter Praxis und akademischer Theorie wurde Andrea Binder früh bewusst: 2005 widmete sie in Tübingen ihre Magisterarbeit der Rolle von Unternehmen in Friedensprozessen, dargestellt am Beispiel Sri Lankas. Kaum aber hatte sie die Arbeit abgeben, quälten sie Zweifel: "Was, wenn die Statistiken und Studien in meinem Befund die soziale Wirklichkeit nicht richtig abbilden?" Um Gewissheit zu erlangen, packte Binder ihre Koffer, interviewte in Sri Lanka Geschäftsleute, Banker und Anwälte, machte den Realitätscheck. "Für meine Promotion war es eine wichtige Erfahrung, zuerst mit den Akteur:innen zu sprechen und erst danach in die Daten zu schauen. Dadurch habe ich wirklich verstanden, wie Geldmärkte funktionieren." 

Qualitative Interviews im Forschungsfeld sind bis heute ein Merkmal ihrer Methodik. Dass sie damit aneckt in der Politikwissenschaft, in der vor allem nüchterne Zahlen als harte Währung für Erkenntnis gelten, nimmt sie in Kauf: "Ob ich mit meiner Arbeit in den fachlichen Mainstream passe, wird sich noch zeigen." Ohne Zögern sagt Binder das und man spürt, dass sie Disputen nicht aus dem Weg geht. Und dass Stromlinienförmigkeit nicht der Preis ist, den sie zahlt, um sich den nächsten Karriereschritt an der Universität zu sichern. 

Der Tisch mit den Croissants darauf steht im ersten Stock einer ergrauten Villa an der Altensteinstraße im Berliner Stadtteil Dahlem. Ein Schild im Vorgarten weist das Haus als Niederlassung der Freien Universität aus: "Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft". Dass Andrea Binder hier 2022, ausgestattet mit einem Freigeist-Fellowship der VolkswagenStiftung, einzog, erscheint konsequent, wenn man sie im Gespräch näher kennenlernt – oder auch nur auf ihre Auszeichnungen schaut: Promotionsstipendium der Gates Stiftung in Cambridge; Studienpreis der Körber-Stiftung für die beste Promotion in den Sozialwissenschaften. 

Zum Start: Interesse an Politik 

Dabei ist ihre größte Leistung womöglich diese: aus sogenannten "kleinen Verhältnissen" stammend überhaupt den Sprung an die Uni geschafft zu haben. Sie selbst sagt, dass ihre familiäre Herkunft ihr Interesse an Politik geprägt habe und sie anspornt, das Verhältnis von Macht und Geld zu erforschen. Wäre es nach dem Vater gegangen, wäre Andrea Binder Auszubildende in einer baden-württembergischen Sparkasse geworden, "was Solides". Es war die Mutter, die sie auf dem Weg zum Abitur unterstützte.

Eine Gruppe von vier Menschen sitzt um einen Tisch und bespricht sich

Als Freigeist-Fellow konnte Andrea Binder sich ein eigenes Forschungsteam am Otto-Suhr-Institut aufbauen. Louis Miebs, Christopher Olk, Andrea Binder und Caroline Rübe (vl.nr.) forschen gemeinsam am Projekt "The international political economy is not what it seems – global monetary relations in the age of Eurodollar futures". 

Mit welchem Durchsetzungsvermögen sich Binder dieses Ziel als Schülerin auch selbst zu eigen machte, illustriert eine Episode aus der Oberstufe am Gymnasium in Ditzingen: Um ihr Politikinteresse ins Abitur einzubringen, rekrutierte Binder die behördlich vorgeschriebene Mindestzahl von fünf Teilnehmenden, um die Schule zu zwingen, einen Politik-Leistungskurs einzurichten, "mit einem Lehrer, der das noch nie vorher gemacht hat, aber dann zu ganz großer Form auflief." Dieser Lehrer, die Flexibilität der Schule und obendrein ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung trugen Binder 1999 an die Uni, als "Erstakademikerin" - anfangs in Augsburg, danach in Tübingen: Politikwissenschaft mit internationaler Ausrichtung, Ökonomie, Rhetorik. "Dabei wollte ich ursprünglich Materialwissenschaft studieren", sagt sie. "Aber in der Studienberatung hat man mir das ausgeredet. Ingenieurberufe seien nichts für Frauen." 

Nach dem Studienabschluss in Tübingen wechselt Binder 2006 nach Berlin – in die Dienste des "Global Public Policy Institute" (GPPI), eines Non-Profit-Thinktank. Dafür empfohlen hat sie sich mit der selbst initiierten Evaluation ihrer Magisterarbeit in Sri Lanka. Fortan begutachtet sie Hilfsorganisationen bei ihren Katastropheneinsätzen, sieht selbst Not und Elend in Fernost und auf Haiti und entwickelt professionelle Empfehlungen, wie Hilfe noch effizienter werden kann. Nach acht Jahren dann die bittere Einsicht: Die Organisationen wollen sich gar nicht strukturell verändern. So kehrt Binder 2014 zurück in die akademische Forschung. Und zurück zu dem Thema, das sie seit ihrer Magisterarbeit beschäftigt: das Verhältnis von Macht und Geld.

Portrait einer Frau mit weißer Bluse

Andrea Binder: "Ob ich mit meiner Arbeit in den fachlichen Mainstream passe, wird sich noch zeigen."

Wie die "Geldvermehrung" kontrollieren?

Kurzes Innehalten, konzentrierter Blick: Wie soll sie dem Laien auf der anderen Tischseite ihr komplexes Forschungsprojekt skizzieren? Dann sagt sie: "Global tätige Banken, auch aus Deutschland, vergeben in Offshore-Finanzzentren wie den Cayman Inseln günstige Kredite in US-Dollar an andere Banken, an Konzerne und Unternehmen, die anderswo in der Welt beheimatet sind. Mit jedem Kredit in US-Währung vermehren die Offshore-Banken die Dollar-Geldmenge, sie ‚schöpfen Fremdwährung‘. Diese Geldvermehrung entzieht sich jeglicher Bankenaufsicht oder politischen Kontrolle und unterläuft Regeln, die für die Banken in ihren Heimatmärkten gelten würden." 

Das Phänomen ist schon seit den 1950er-Jahren bekannt – "und nicht illegal", wie Binder betont. Die Politik toleriert die Praxis, weil die günstigen Kredite aus dem Offshore-System für globales Wirtschaftswachstum sorgen. Andererseits hat sich das Schuldenvolumen in diesem völlig intransparenten Sektor stark aufgebläht. Wie stark, weiß niemand genau. "Wer aber steht ein", fragt Binder, "wenn Schuldner plötzlich in großem Ausmaß ihre Kredite nicht mehr bedienen können?" Die Antwort liegt auf der Hand: Dann müssen die Zentralbanken einspringen und Kreditausfälle kompensieren, um das Finanzsystem stabil zu halten. "Im Status Quo gewinnt die Bank immer", sagt Binder. Und findet das problematisch. Dass Fremdwährungen unreguliert geschöpft werden, dass Geld sich gleichsam aus dem Nichts vermehrt, gefährde die Stabilität des Finanzsystems und unterlaufe demokratische Prozesse.

Doch wie lässt sich dieser Geldmarkt einhegen? Andrea Binder gesteht freimütig, noch längst nicht alle Antworten gefunden zu haben. Aber sie hat sich ein Ziel gesetzt: Mit den Ergebnissen ihrer Forschung auf die Politik zuzugehen, um diese mit empirischer Evidenz davon zu überzeugen, sich endlich einzumischen: "Die Offshore-Finanzwirtschaft in einem breiten politischen Diskurs zu hinterfragen, stünde aus meiner Sicht in guter demokratischer Tradition."

Diskurs über die Wissenschaft hinaus

Die Eröffnung des demokratischen Diskurses haben Binder und ihre Forschungsgruppe schon hinter sich: In vertraulichen Runden diskutieren sie seit Dezember 2022 mit anderen Forschenden, Medienleuten sowie Entscheider:innen aus Wirtschaft und Politik über – Inflation. "Ideas of Inflation" heißt die Reihe. Und es geht darin um den Kern von Binders Projekt: die Dominanz privat geschaffenen Offshore-Geldes, die hochgradig finanzgetriebene Wirtschaft, drohende Großmachtkonflikte – es geht um Macht und Geld. 

Eine Frau positioniert Klebezettel an einer Tür

Große Datenanalysen starten in Andrea Binders Team manchmal auch ganz klein – auf Postit-Zetteln, hier zu Offshore-Finanzzentren und ihren Rechtssystemen.

"Was die Ampelkoalition mit Blick auf die Inflationsbekämpfung in diesen Monaten beschließt, wird soziale Auswirkungen für die nächsten zehn, fünfzehn Jahre haben", sagt Andrea Binder. "Mit unserer Diskursreihe wollen wir Entscheider:innen einen geschützten Raum bieten, um offen über zentrale wirtschaftliche Phänomene diskutieren. Als Forschende wollen wir dem Politikbetrieb substanzielle Überlegungen anbieten, wo sonst häufig nur reflexhaft entschieden wird. Wir wollen Finanzpolitik aus den Fachzirkeln wieder in die breite Öffentlichkeit bringen."

Dann wischt Andrea Binder die Croissant-Krümel vom Tisch. Es sei ja ein bisschen schade, sagt sie, dass so viel über ihren Werdegang gesprochen wurde, und so wenig über ihre Forschung. Und scheint tatsächlich nicht zu merken, wie viel Ansporn sie wohl anderen bietet, die ausgetretene Pfade in der Wissenschaft verlassen wollen, selbst böigem Gegenwind zum Trotz. Die eben so sind, wie sich die Stiftung Freigeister wünscht. 

mehrere Ausgaben des aktuellen Impulse-Hefts auf einem Tisch ausgebreitet

Impulse Ausgabe 2023: Wissenschaft leben

Diesen Beitrag finden Sie auch in der aktuellen Ausgabe unseres Stiftungsmagazins "Impulse". Was die Menschen in diesem Heft verbindet: Die Leidenschaft für ihren Beruf und ihre Themen!

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Andrea Binder über ihre Karriere 

Unter dem Titel "X Jahre später - Karrieren im Wandel" berichteten Andrea Binder sowie Volker Busskamp und Stefan Hell von ihren Karrierewegen in der Wissenschaft. Anlass was das 10-jährige Jubiläum des Xplanatoriums. 

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