Eine Frau und ein Mädchen laufen vor einem Mann und einem Jugendlichen durch den Wald.
Story

Biodiversität: Familie Haug forscht

Autor: Tim Schröder

Joachim Haug arbeitet zum großem Thema der Biodiversität an kleinen Objekten: Insekten- und Krebslarven. Auch seine Frau ist begeisterte Zoologin. Da verwundert es kaum, dass der Forschertrieb schon früh auch ihre beiden Kinder erfasst hat.

Wenn man in den Veröffentlichungen auf der Website von Joachim Haug stöbert, fällt eines recht schnell auf. In einigen der Fachartikel taucht der Name "Haug" gleich mehrfach auf: "Joachim Haug", "Carolin Haug" und "Gideon Haug". Für wissenschaftliche Publikationen ist das eher ungewöhnlich, für Joachim Haug aber ganz normal, denn bei ihm arbeitet quasi die ganze Familie in der Wissenschaft. Carolin Haug ist wie ihr Mann in der Zoologie zuhause und zusammen mit ihrem 16-jährigen Sohn Gideon haben die beiden bereits gemeinsame Fachartikel veröffentlicht. Die zehnjährige Tochter Fenja begeistert sich gerade für Krebse und verbringt viel Zeit damit, Scheren von Hummern, Flusskrebsen und deren Artgenossen zu zeichnen. Im Grunde konnten die Kinder gar nicht anders, als sich für Tiere zu interessieren, sagt Joachim Haug. "Sie sind gewissermaßen auf Konferenzen groß geworden", sagt er. "Gideon kam während unserer Doktorarbeiten auf die Welt. Anschließend verbrachten wir als Postdocs ein Jahr an der Yale University in den USA. Er war also immer mit dabei – auch wenn wir auf Konferenzen Vorträge hielten." 

Früh übt sich ...

Joachim Haug und seine Frau arbeiten vor allem an Fossilien. Sie erfassen die Vielfalt dieser Fossilien und vergleichen sie mit der moderner Faunen um zu verstehen, wann und warum es in der Erdgeschichte große Aussterbeereignisse gab. Heute interessieren sich die Haugs besonders für Insekten und Krebse, die in Bernstein eingeschlossen sind. Über die Jahre haben sie viel Zeit in den zoologischen Sammlungen von Museen verbracht – vor allem auch mit den Kindern. "Mit vier war Gideon irgendwann so weit, dass er tippen konnte. Da hat er dann die Archiv-Nummern der Museums-Präparate in Excel-Tabellen eingetippt", sagt Joachim Haug. 

Später interessierte sich Gideon für Elefanten. Viele Eltern würden ihren Kindern wahrscheinlich einen Plüschelefanten oder einen kleinen aus Kunststoff schenken. Gideon bekam einen Urzeit-Elefanten aus Plastik – das Modell eines Amebelodons mit spitzer Schnauze, der vor sechs Millionen Jahren lebte. Die Eltern zeigten Gideon, wie man mit Programmen wie Photoshop und Illustrator am Computer Schädel nachzeichnet. Sie setzten ihn auf seine erste Literaturrecherche an: Er durfte die Form prähistorischer Elefantenschädel miteinander vergleichen. Die Ergebnisse präsentierte Gideon dann auf einer Fachtagung auf seinem ersten Poster. Damals war er knapp sechs Jahre alt. Seine Schwester eiferte ihm nach. Ein paar Jahre später präsentierte auch sie ihr erstes Poster – ebenfalls mit sechs.

Mann und Jugendlicher schauen sich gemeinsam hoch gehaltenen Bernstein an.

Die Bestände der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie in München bieten reichlich Forschungsmaterial. 

Das Paar hat das Glück, an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Vorort Planegg-Martinsried quasi Tür an Tür arbeiten zu können. Joachim Haug hat eine durch die VolkswagenStiftung geförderte Lichtenberg-Professur für Zoomorphologie inne. Carolin Haug vertritt momentan eine Professur am Lehrstuhl für Systematische Zoologie direkt nebenan. Die Labore sind nur ein paar Kilometer von der Wohnung im Nachbarort Neuried entfernt. Mit dem Fahrrad sind es ein paar Minuten durch ein kleines Waldstück von der Uni nach Hause. Ihre Arbeit macht es ihnen relativ leicht, daheim zu arbeiten, denn einen guten Teil macht die Literaturrecherche aus. 

Larven als wesentliche Daseinsform

Joachim Haug hat sich in den vergangenen Jahren auf einen Aspekt der Zoologie spezialisiert, den viele andere außer Acht lassen – die Larven von Insekten und Krebsen. "Die meisten Kollegen beschäftigen sich mit den ausgewachsenen, den adulten Tieren", sagt er. "Dabei sind gerade die Larven spannend." Bei vielen Insekten dauert das Larvenstadium viel länger als das Dasein im ausgewachsenen Zustand. Die adulte Eintagsfliege zum Beispiel lebt, anders als der Name vermuten lässt, nur zwei Tage. Die Larve hingegen fünf Jahre. Die Larven sind also bei vielen Insekten und auch Krebsen die wesentliche Daseinsform. "Deshalb haben die Larven einen größeren Einfluss auf das Ökosystem", sagt Joachim Haug. Über die lange Zeit, in der sie sich entwickeln, fressen sie deutlich mehr als die ausgewachsenen Tiere. Sie verbrauchen also mehr Ressourcen. Anderen Tieren wiederum stehen die Larven das ganze Jahr über als proteinreiche Nahrung zur Verfügung – auch in Zeiten, in denen keine adulten Exemplare unterwegs sind. 

Larven spielen also eine große ökologische Rolle. Deshalb will Joachim Haug herausfinden, ob die verschiedenen Insektenarten und -gruppen im Laufe der Zeit seltener geworden sind. Wichtig ist für ihn die Frage, ob Insektenarten heute in größerem Maß aussterben als vor Hunderttausenden oder gar Millionen von Jahren, auch vor dem Hintergrund des aktuellen Insektenverlusts. Dafür braucht er prähistorische Insekten und Larven, die er vor allem im Bernstein findet. Eine Herausforderung besteht darin, die Arten richtig zu bestimmen. Das ist deutlich schwieriger als bei adulten Tieren. Wie eine Stubenfliege aussieht, weiß wohl jeder. Eine Stubenfliegenlarve korrekt zu bestimmen, ist etwas ganz anderes. Es sind Feinheiten in der Gestalt der Larven, auf die es ankommt, die Form des Kopfes oder die Ecken und Zähnchen am Rande der harten Mundwerkzeuge, der Mandibeln, mit denen die Larven ihre Nahrung zerbeißen. 

Mann spricht mit Frau, daneben steht ein Mikroskop

VHX-Mikroskope können selbst die feinsten Körperteile der Larven optimal darstellen; Joachim Haug diskutiert mit Postdoktorandin Sofia Arce aus seiner Arbeitsgruppe morphologische Details. 

Bernstein aus privaten Sammlungen

"Oft heißt es, dass es für viele Artengruppen gar nicht genug prähistorische Larvenpräparate gebe", sagt Joachim Haug. "Wenn man dann nachforscht, finden sich aber doch meist einige." Er durchsucht Fachartikel nach Abbildungen von Larven, die andere in Bernsteinen gefunden haben. Er durchforstet zoologische Sammlungen in Museen nach Bernsteinen, in denen Insekten und Larven eingeschlossen sind. Vor allem aber hält er Kontakt zu privaten Bernstein-Fans. "Es ist erstaunlich, wie viele gut erhaltene Larven man in deren Sammlungen findet", sagt Joachim Haug, dem das Material sogar häufig in München vorbeigebracht wird. 

"Die vielversprechendsten Exemplare schaue ich dann im Labor unter unseren Mikroskopen an, bei denen man das Bild direkt auf einen großen Computer-Bildschirm übertragen kann." Zusammen mit seinem Team arbeitet er seit einiger Zeit an Algorithmen, die im Computerbild automatisch Mandibeln und andere Körperteile identifizieren – um diese dann mit denen anderer Arten zu vergleichen. Noch aber liegt die Software manches Mal daneben. "Insofern gibt es nach wie vor viel Handarbeit", sagt er. "Oft müssen wir von Hand am Computer nachzeichnen." 

Dabei hilft ihm auch Gideon. Vor einiger Zeit haben die beiden gemeinsam die Larven von Florfliegen und verwandten Arten untersucht, länglicher Insekten, die im Sommer durch ihren knallgrünen Körper und die zarten durchscheinenden Flügel auffallen. Florfliegen sind seit mehr als 150 Millionen Jahren weit verbreitet. Für die Arbeit hat Gideon prähistorische Larven aus verschiedenen Regionen der Welt mit heute lebenden Larven verglichen. Zusammen mit seiner Mutter und seinem Vater hat er darüber mehrere Fachartikel geschrieben, die unter anderem in der Paläontologischen Zeitschrift erschienen sind. Ein Ergebnis: Der Arten- und Formenreichtum der Florfliegen-Gruppe hat im Laufe der Jahrmillionen abgenommen. "Mit diesen Artikeln kann ich jetzt meine Arbeitsgruppe nerven", sagt Joachim Haug und lacht. "Nach dem Motto, seht ihr, es ist gar nicht so schwer ein Paper zu veröffentlichen. Das kann sogar mein Sohn."

Gemeinsam erfolgreich 

"Früher sagten viele, dass es schwierig sei, als Mann und Frau gemeinsam zu forschen und für beide eine Anstellung zu finden", erinnert sich Joachim Haug an die Zeit der Promotion. Auch käme die Arbeit als Paar "nicht gut an". "Wir haben aber eigentlich immer das Gegenteil erlebt", sagt er. "In Yale wurden Paare gefördert, um den Frauenanteil in der Forschung zu erhöhen. Und dass wir unsere Kinder immer zu den Konferenzen mitgenommen haben, kam total gut. Die Kolleginnen und Kollegen haben unsere Kinder über all die Jahre aufwachsen sehen." Tatsächlich findet man auf den Websites der zoologischen und paläontologischen Gesellschaften Fotos, die die ganze Familie auf Konferenzen oder vor Regalen voller Gläser mit Tierpräparaten zeigen; die Kinder noch als Steppkes auf Papas Schultern. Sie tragen T-Shirts, auf denen die Köpfe von Krebsen und Larven zu sehen sind. "Urlaub hatten wir in all den Jahren allerdings kaum", sagt er. "Meist haben wir die Konferenzen mit Kurzurlauben verbunden, von Ljubljana zum Beispiel sind wir mal nach Venedig weitergereist."

Mann, Mädchen, Jugendlicher und Frau stehen vor einem Baum und schauen diesen genau an.

Ein beliebter Exkursionsort der Familie, ein Waldstück bei Planegg, liegt quasi vor der Haustür. 

Heute sind die Haugs weniger unterwegs. Die Arbeit besteht jetzt oftmals aus Schreiberei – dem Schreiben von Fachartikeln, von Gutachten für die Artikel anderer oder von Projekt- und Förderanträgen. Jeder hat zwar seine eigenen inhaltlichen Schwerpunkte, doch häufig veröffentlichen sie auch gemeinsame Arbeiten. "Pro Jahr veröffentlichen wir etwa 25 Paper", sagt er. "Das ist ein hoher Output. Ich bin ziemlich gut darin, die ersten paar Seiten eines Artikels schnell herunterzuschreiben. Mir fällt es aber schwer, sie zu Ende zu bringen. Meine Frau ist da strukturierter." Außerdem habe sie ein gutes Auge für Fehler. 

Die Schreibarbeit wird oft im Home-Office erledigt, aber natürlich ist das Zuhause nicht nur vom Forschergeist beherrscht. Zwischen dem Arbeitszimmer und den Kinderzimmern gibt es einen Raum, der ganz mit Judo-Matten ausgelegt ist – den Toberaum. Er wird von allen Vieren für Kampfsport genutzt. Joachim Haug ist seit 30 Jahren dabei. Bis heute hat er so ziemlich alle Kampfsportarten ausprobiert und in zwei Disziplinen den schwarzen Gürtel. Das ist reichlich Erfahrung, um seine Kinder zu trainieren. Die beiden machen gern mit. Genauso gern wie beim Zeichnen von Krebsscheren und Florfliegenlarven. 

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Impulse Ausgabe 2023: "Wissenschaft leben"

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