Meinung

Vom Mut zu gehen

Autorin: Heidi Seibold

Illustration einer Frau, die einen Rollkoffer hinter sich herzieht

Heidi Seibold hat das Wissenschaftssystem verlassen. Sie ist überzeugt, dass Forschende anders bewertet werden müssen, damit gute Wissenschaft und Open Science gelingen können. Ein Gastbeitrag. 

Es ist März 2021, und als junge Gruppenleiterin bin ich auf dem Weg zu einer erfolgreichen Karriere in der Wissenschaft. Die Auszeichnung als KI Newcomerin des Jahres für meine Arbeit zu Open Science, Medizin und künstlicher Intelligenz lässt alles noch ein wenig glänzender erscheinen. Dennoch fälle ich im selben Monat eine Entscheidung, über die viele den Kopf schütteln: ich kündige. Was mich getrieben hat, das klassische Wissenschaftssystem zu verlassen? Es sind der Wunsch nach einer offenen Wissenschaft, in der Qualität vor Quantität geht, und die Unmöglichkeit, mich dauerhaft an Spielregeln zu halten, die ich für grundlegend falsch halte. Mein "Hobby" Open Science wird zwar immer gern gesehen, aber am Ende werde ich – wie alle – auf der Basis von Zahlen bewertet: h-Index, Impact Factor, all diese sinnlosen Maße, die die Komplexität meiner vielfältigen Arbeit in Lehre, Forschung, Kommunikation und Wissenschaftspolitik nicht ansatzweise abbilden. Was zählt, sind die Artikel, am besten in "High-Impact"-Journalen. Je länger ich in der Wissenschaft arbeite, desto weniger Sinn sehe ich darin, noch ein weiteres Paper auf den Berg der wissenschaftlichen Publikationen zu werfen. Wer soll das denn alles lesen? Und am Ende ist das meiste davon nicht einmal reproduzierbar!

Die wachsende Diskrepanz zwischen Erwartungen und meinen eigenen Zielen löst Panikattacken aus. Ich muss etwas ändern. Es folgen schwierige Gespräche mit Vorgesetzten, ich versuche, meine Situation zu erklären. Ich blicke in verständnislose Gesichter auf meinem Zoom-Bildschirm – im zweiten Corona-Jahr kann man diese Dinge ja nicht einmal Face-to-Face besprechen. Hilfe bietet letztlich die psychosoziale Beratung am Forschungszentrum. Zwischen Tränen und Lachen finde ich in diesen Sitzungen Mut. Den Mut zu gehen und auf meine Weise einen Beitrag für eine Wissenschaft zu leisten, wie sie sein sollte.

Denn das glaube ich zutiefst: Das derzeitige System macht die Wissenschaft kaputt. Das Paper als heiliger Gral. Berufungen auf der Basis von h-Index und High-Impact-Factor-Publikationen. Eine Grant- oder Stellenbewerbung nach der anderen in der Postdocphase, sodass konzentriertes wissenschaftliches Arbeiten kaum möglich ist. Das kann es doch nicht sein – nicht nur wegen dem Frust, den das erzeugt. Auch Qualität und Kreativität leiden darunter.  Ein Grundprinzip von Wissenschaft ist ja, dass Forschende auf den Erkenntnissen anderer aufbauen können. Dazu muss Forschungsarbeit nachvollziehbar, reproduzierbar und zugänglich sein. Ein 10-seitiges Paper reicht dafür nicht aus. Es braucht Zugang zu den zugrundeliegenden Dokumenten wie Daten, Computer-Code und Protokollen – Open Science eben. Damit das gelingt, dürfen diese nicht länger Wissenschaftsoutputs zweiter Klasse sein. Auch Lehre und Wissenschaftskommunikation sind zentrale Bausteine der Wissenschaft und müssen gewürdigt werden. Und es muss ein konstruktiver und kollaborativer Diskurs stattfinden: Kritikfähigkeit ist gefragt.

Portrait einer Frau

Heidi Seibold ist promovierte Statistikerin, selbstständige Trainerin und Beraterin für Open und Reproducible Data Science und freie Wissenschaftlerin bei IGDORE. Sie veröffentlicht einen wöchentlichen Newsletter und den Podcast ">reboot academia".
 

Was ist zu tun? Ich meine: andere Anreize schaffen. Wenn wir die Bewertung von Forschung und Forschenden ändern, kann die Qualität mehr ins Zentrum rücken. Wenn Wissenschaftler:innen wissen, dass sie aufgrund der Qualität ihrer Forschung gefördert und befördert werden, können sie sich auf ihre Ideen und gute Forschung fokussieren, anstatt auf die Anzahl der Publikationen. Das würde Wissenschaft ganz nebenbei attraktiver und diverser machen. Qualität entsteht auch durch unterschiedliche Blickwinkel und Stärken. Menschen mit verschiedenen Hintergründen und Skills sind im Team kreativer und innovativer als einheitliche Gruppen oder Einzelpersonen. 

Es ist kein Zufall, dass sich Forschende wie ich, die sich für Open Science engagieren, auch mit dem Thema der Bewertung kritisch auseinandersetzen. Denn es geht ja darum, die Wissenschaft zu verbessern, und Research Assessment ist einer der wirkungsvollsten Hebel, um entsprechende Anreize zu schaffen.
Ich habe Hoffnung, denn es bewegt sich einiges – sowohl hinsichtlich Open Science als auch bei den Bewertungssystemen: Die EU stellt in ihrer Forschungsförderung nun Gelder für Open Science bereit, und Initiativen für die Veränderung von Research Assessment – wie zum Beispiel CoARA (Coalition for Advancing Research Assessment) – finden viel Zuspruch. Aber auf meiner Wunschliste und der vieler anderer, die „das System" nachhaltig zu demotivieren droht, steht noch manches: Wir wollen Anerkennung für den Mehraufwand, der durch Veröffentlichung von Daten und Code entsteht. Wir wollen unbefristete Stellen, um in Ruhe denken und arbeiten zu können, ohne Angst vor Arbeitslosigkeit. Wir wollen uns auf einen Job fokussieren können und nicht noch "Hobbys" haben müssen, die eigentlich ein zweiter Job sind.

Ob ich einmal zurückgehen werde an eine Uni oder Forschungseinrichtung? Vielleicht dann, wenn ich mit meiner Passion für Open Science und meinem Engagement für gute Forschung als das gesehen werde, was ich bin: eine Wissenschaftlerin, die kaum Paper schreibt und doch wertvoll ist für den Erkenntniszuwachs. Bis dahin arbeite ich aus dem freiberuflichen Exil als unabhängige Wissenschaftlerin für Open Science – nicht als Hobby, sondern im Hauptberuf.

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