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Interview

Digitale Lehre – Wie in die Zukunft investieren?

Klaus Lüber

Viele Unis kommen erstaunlich gut durch die Corona-Krise, doch wie geht es langfristig weiter? Cornelis Kater plädiert für weniger Föderalismus und mehr Investitionen in Open-Source-Lösungen.

Cornelis Kater leitet die Abteilung E-Learning Service an der Zentralen Einrichtung für Qualitätsentwicklung in Studium und Lehre an der Leibniz Universität Hannover. Er schafft mit seinem Team die technischen und mediendidaktischen Voraussetzungen dafür, dass Lehrende und Studierende möglichst gut und gern mit digitalen Lehrformaten arbeiten. Kater ist zudem Vorstandsmitglied des Stud.IP e. V., der die Entwicklung des gleichnamigen Open-Source-Lernmanagementsystems fördert. 

Herr Kater, was das Thema digitale Lehre angeht, hatte Deutschland lange den Ruf, viel zu debattieren und wenig umzusetzen. Dann kam Corona, und plötzlich scheint alles sehr schnell zu gehen. Empfinden Sie das auch so?

Cornelis Kater: Ja und nein. Bei bestimmten Online-Tools haben wir natürlich einen enormen Beschleunigungseffekt erlebt. Einfach deshalb, weil viel kompensiert werden musste: Gesprächssituationen durch Konferenzsysteme, Vorlesungs- oder Übungssituationen durch Videoaufzeichnungen. Plötzlich waren so gut wie alle Lehrenden gezwungen, sich in kürzester Zeit einzuarbeiten und die Möglichkeiten digitaler Lehre in der Praxis kennenzulernen. Ob das mittel- und langfristig die Akzeptanz von Online-Lehre weiterbringen wird, muss sich noch zeigen.

 

Cornelis Kater vor mehreren Servern

Serverkapazität allein macht keine digitale Lehre: auch in den Ausbau der Lernplattformen und den Aufbau digitaler Kompetenzen muss investiert werden.

Was meinen Sie?

Möglichst viele Lehrende schnell fit zu machen im Umgang mit Online-Tools ist die eine Sache. Viel entscheidender ist aber, ihnen auch die Kompetenz zu geben, sie didaktisch sinnvoll einzusetzen. Lehreinheiten durch Online-Elemente zu ergänzen, ist anspruchsvoll und braucht oft einen langen Vorlauf. Wir haben im Zuge der Krise zwar auf sehr pragmatische Weise viel angestoßen, aber die grundlegende Herausforderung bleibt weiter bestehen: Wie können digitale Hilfsmittel die Lehre verbessern? Daran hat auch der Corona-Effekt nichts geändert. Vermutlich kommt hier im Wintersemester noch einiges auf uns zu.

Weil die Lehrenden entscheiden müssen, welche Tools sie weiter nutzen wollen?

Ganz genau. Es wird dann bei vielen nicht um die klassischen Einstiegsfragen gehen, nach dem Motto: Wo finde ich das, wie kann ich schnell loslegen? Sondern eher: Wie kann ich das verbessern, gibt es auch Alternativen? Dann wird es in der Beratung schnell komplex. Und das sollten wir dann auch entsprechend abfedern können. 

Da ist ja sicher auch Nutzerfreundlichkeit ein Thema? Sie hatten doch bestimmt in der Krise sehr schnell Angebote auf dem Tisch, die genau damit warben? 

Tatsächlich kam Zoom mit einem Angebot auf uns zu, und wir haben auch intensiv diskutiert, ob wir es wahrnehmen sollen. Noch dazu mussten wir uns recht schnell entscheiden: AdobeConnect und DNF-Conf – zwei Plattformen des deutschen Forschungsnetzwerkes, die wir bis dahin genutzt hatten – waren nach kurzer Zeit komplett überlastet. Letztlich fiel unsere Wahl dann auf ein Konkurrenzprodukt – wenn man so will neben Zoom der zweite Shootingstar der Krise: die Konferenzplattform Big Blue Button. 

Cornelis Kater auf dem Campus

Der Laptop als unverzichtbarer Begleiter: Cornelis Kater auf dem Campus der Leibniz Universität Hannover.

Was hat den Ausschlag gegeben?

Vor allem die Tatsache, dass es sich um eine Open-Source-Lösung handelt. Da unser Lernmanagementsystem Stud.IP auch quelloffen ist, konnten wir sehr schnell eine Schnittstelle zu Big Blue Button programmieren, die es zu Zoom damals noch nicht gab. Hinzu kamen noch Probleme, insbesondere im Bereich Datenschutz, die zumindest in Fachkreisen schon vor der Krise bekannt waren. Der vielleicht wichtigste Grund aber ist, und das gilt für alle Open-Source-Produkte: Man kann die Software perfekt an die eigenen Bedürfnisse anpassen und bleibt auch in der weiteren Entwicklung unabhängig.

90 Prozent aller deutschen Hochschulen arbeiten mit Open-Source-Lösungen, Sie selbst sind in der Initiative Open-Source-LMS engagiert, die die drei größten Lernmanagement-Plattformen Ilias, Moodle und Stud.IP vereint. Eine beeindruckende Dominanz … 

… die eben damit zu tun hat, dass diese Systeme genau das leisten, was Universitäten brauchen – im Bereich Datenschutz, Urheberrecht oder Barrierefreiheit. Das ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass es diese Systeme bereits seit 20 Jahren gibt und sie ja an Hochschulen entstanden sind. Mittlerweile sind die Systeme fest in die Tiefenstruktur der Hochschulen eingebunden, leisten bei weitem mehr, als lediglich Inhalte bereitzustellen und machen es vor allem möglich, schnell auf neue Anforderungen zu reagieren. Unsere Open-Source-Videoplattform Flowcasts, eine in unser Lernmanagementsystem integrierte Eigenentwicklung, verwaltete vor Corona noch rund 1.000 Videos pro Semester. Inzwischen liegen wir bei mehr als 10.000 Clips für den gleichen Zeitraum. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das mit einer nicht-quelloffenen Software auch so schnell geschafft hätten.

Die Infrastruktur funktioniert also selbst unter dem Druck der Krise sehr gut? Warum dann die Debatten über die schleppende Digitalisierung unseres Bildungssystems?

Das ist eine Diskussion, die sich vor allem auf Schulen fokussiert, und hier gibt es ja auch tatsächlich dringenden Handlungsbedarf. Die Hochschulen sind glücklicherweise in einer besseren Position. Zumindest jede größere Uni verfügt über eine Serviceabteilung, die selbst Dienste betreibt und auch einen guten Draht hat zu Lehrenden an den Fakultäten.

Sie hatten selbst nie das Gefühl, schlecht ausgestattet zu sein – auch im internationalen Vergleich? 

Nein, überhaupt nicht. Schon vor Corona liefen bei uns 15 umfangreiche Projekte zur Transformation von Veranstaltungen oder Fächern in die digitale Lehre, eines davon bereits seit neun Jahren. Und das alles betreut von einem Team von aktuell 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und zirka 30 Hilfskräften. Nein, die Ebene der Infrastruktur war und ist für uns eigentlich kein Problem. Ich glaube, hier kann man sagen, dass die deutschen Universitäten generell auf einem sehr hohen Niveau agieren.

Es gibt gar nichts, was Ihnen Sorge bereitet?

Na ja, gerade weil es im Augenblick vergleichsweise gut läuft, besteht meiner Meinung nach auch eine Gefahr. Es stellt sich die Frage: Investieren wir auch genug in die Zukunft? Mein Eindruck ist, dass viele Universitäten den finanziellen Mehraufwand der letzten Monate als einmalige kurze Spitze verstehen, bei der Frage nach längerfristigen Investitionen aber schnell einknicken. Ich denke aber nicht, dass digitale Lehre besonders teuer sein muss. Was wir jetzt dringend brauchen, sind nachhaltige personelle Ressourcen, vor allem im Bereich der mediendidaktischen Beratung: geplante Lehrveranstaltungen analysieren, gemeinsam geeignete Tools auswählen, schulen bzw. die Umsetzung begleiten. Das wird im Augenblick leider noch viel zu selten als langfristige Aufgabe verstanden. Ohne den Aufbau digitaler Kompetenzen wird aber digitale Lehre nicht gelingen, selbst wenn die Technik wunderbar funktioniert.  

Wie sieht es bezüglich Ressourcen bei Ihnen konkret aus? Sie sind doch zumindest personell ganz gut aufgestellt?

Ja, aber das kann sich schnell ändern. Einige unserer Stellen laufen Ende des Jahres aus. Das ist natürlich ein denkbar ungünstiges Timing, denn wir rechnen mit einer Phase, in der vermutlich so viel Beratungsbedarf herrscht wie noch nie. 

In der Debatte um digitale Tools heißt es immer wieder, dass es viele Lehrformate gibt, die man nicht ersetzen kann.

Es geht in der digitalen Lehre überhaupt nicht darum, Präsenzveranstaltungen ganz zu ersetzen. Das ist ein Missverständnis, dem man leider noch viel zu häufig begegnet. Ich bin davon überzeugt, dass der reale Austausch in Bezug auf Kommunikation, Lerngruppen und Projektentwicklung weiterhin das Beste ist. Sehr wohl haben digitale Lösungen aber dort Sinn, wo das Konzept Präsenzlehre schon heute an seinen Grenzen stößt. Eine weitgehend standardisierte Vorlesung vor 2000 Studierenden, die sich jedes Semester wiederholt, ist ein logistischer und didaktischer Unsinn.

Also stellt man solche Vorlesungen als Video-Datei zur Verfügung?

Richtig, und zwar möglichst gleich als Open Educational Resources (OER), die man mit anderen Hochschulen teilt und dabei immer weiter verbessert. Die Präsenzsituation kann man dann dazu nutzen, offene Fragen zu klären oder Übungen zu den vermittelten Inhalten anzuleiten. Unter dem Label "Flipped Classroom" ist dieses Konzept schon seit langem bekannt. Wir müssen es nur endlich umsetzen.

Letztlich sind es ja die Lehrenden, die das umsetzen müssen, die fühlen sich aber oft überfordert.  

Und das ist auch kein Wunder, die Situation ist ja auch für viele relativ neu. Man kann das mit der ersten Vorlesung vor vollem Hörsaal vergleichen. Obwohl man grundsätzlich weiß, wie das geht, hat man doch ziemlichen Respekt. Der Schritt ins Digitale ist ungleich schwieriger, denn es gibt bislang noch wenig, an dem man sich orientieren könnte. Die eigene Ausbildung bietet vielen da kaum eine Basis. Genau deshalb war das Sommersemester so wertvoll. Die Lehrenden mussten den Schritt gehen und haben erkannt: Es funktioniert!

Cornelis Kater im Hörsaal

Lehre trotz Leere: Das werden Cornelis Kater und sein Team auch weiterhin sicherstellen.

Welche Rolle spielt die Politik in diesem ganzen Prozess?

Im Augenblick bremst sie leider vor allem. Unser föderales System führt zum Beispiel dazu, dass viele sinnvolle digitale Lösungen, wie etwa OER-Portale für offene Bildungsinhalte, von so gut wie jedem Bundesland einzeln konzipiert und realisiert werden. Das führt dann zum Beispiel dazu, dass sinnvolle Weiterentwicklungen zunächst nur für einzelne Hochschulen oder Länder entstehen und es im Anschluss an Ressourcen oder Abstimmung mangelt, diese generisch für alle nutzbar zu machen. Ich würde mir wünschen, dass der Föderalismus bei der Entwicklung der Bildung ein bisschen zurücktritt und man einheitlicher handeln könnte. Auch auf europäischer Ebene. Hier gäbe es viel, was gemeinsam auf die Beine zu stellen wäre.

Was würden Sie sich als Experte für digitale Lehrmittel wünschen? Welche Tools müssten dringend entwickelt werden?

Wir brauchen auf jeden Fall bessere Tools, die den Studierenden helfen, sich besser zu vernetzen und miteinander zu interagieren, etwa für die Arbeit in kleinen Gruppen. 

Sie meinen das, was sonst im Hörsaal oder der Cafeteria passiert?

Ja, richtig, dieses informelle und teilweise ja auch rein zufällige Sich-Kennenlernen von Studierenden mit ähnlichen Interessen und Problemen. Das könnte man gut durch digitale Tools wie etwa virtuelle Lernräume unterstützen. Den ersten Kontakt würde dann ein Matching-Algorithmus herstellen, der Parameter wie Fachrichtung oder konkrete Fragestellungen oder Wünsche miteinander abgleicht. Für den eigentlichen Austausch stünde dann ein Messenger oder ein Tool zum kollaborativen Arbeiten bereit. Das wäre ein echter Mehrwert.

Eine Allianz für Open Source 

Bei sogenannten Open-Source-Systemen ist der Quellcode der Software lizenzkostenfrei verwendbar, meist pflegt eine Community von Freiwilligen die Weiterentwicklung. Deutsche Hochschulen arbeiten bereits seit langem zu 90 Prozent mit quelloffenen Lernmanagementsystemen (LMS).  Diese gelten zum einen als sehr gut an den spezifischen Bedarfen einer Hochschule ausgerichtet (z.B. bzgl. Barrierefreiheit, Datenschutz oder Urheberrecht). Zum anderen haben die engagierten Communities den Ruf, praxisnahen und flexiblen Support zu bieten. So konnten in der Krise rasch etwa Videodienste und Medienserver integriert und neue Formate digitalisierter Lehre angeboten werden.

Um dies für die Zukunft zu sichern, fordern die Vertreter der drei größten Open-Source-LMS (Moodle, ILIAS und Stud.IP) in einer im Mai 2020 veröffentlichten gemeinsamen Erklärung mehr Unterstützung. Obwohl die Plattformen eine kritische Infrastruktur darstellten, "ohne die der Lehrbetrieb nicht aufrecht zu erhalten wäre", werde Open-Source-Software bei Ausschreibungen eher benachteiligt, statt gezielt gefördert, heißt es dort. Auch sei es wichtig, "die bewährten Entwicklungsstrukturen durch geeignete Finanzierungen" zu sichern und auszubauen – und das länderübergreifend. Nur so könne man langfristig die Unabhängigkeit der Hochschulen von marktwirtschaftlichen agierenden Softwareunternehmen sicherstellen, die im Zuge der Corona-Krise verstärkt auf den Markt drängten.

Digitale Kompetenzen

Digitale Tools schaffen Mehrwert – aber sie müssen kompetent eingesetzt werden. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe hilfreicher Angebote, die Lehrende nutzen können: 

Linkliste der Leibniz Universität Hannover zu Grundlagen der Online-Lehre (Tools, Didaktik, Weiterbildung) 

Umfangreiche Service-Seite der Universität Leuphana Lüneburg zum Einsatz digitaler Plattformen, die eine Vielzahl nationaler und internationaler Best-Practice-Beispiele und Tutorials versammelt. 

E-Teaching.org ist ein Angebot des Leibniz-Instituts für Wissensmedien und eine der wichtigsten wissenschaftlich fundierten und praxisorientierten Informationen zur Gestaltung von Hochschulbildung mit digitalen Medien. 

Linksammlung des Hochschulforums Digitalisierung zum Thema "Corona: Didaktische Guidelines für die Online-Lehre"

Corona-Serviceseite des Hochschulforums Digitalisierung mit didaktischen Leitfäden und Hinweisen zu Veranstaltungen und Partizipationsmöglichkeiten.

Download (PDF): Umfangreiche Materialsammlung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zum Thema "Hochschule und Forschung in der digitalen Welt" (März 2019).

Lesetipp: Und wie sind andere klargekommen? Das Hochschulforum Digitalisierung zieht eine Zwischenbilanz.

Hochschule.digital Niedersachsen

Um den Innovationsschub in Sachen Digitalisierung an den Hochschulen des Landes zu unterstützen, wurden aus dem Niedersächsischen Vorab der VolkswagenStiftung in enger Abstimmung mit dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) insgesamt 8 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Hälfte der Fördersumme ermöglicht vor dem Hintergrund der Corona-Krise Sofortmaßnahmen, damit die Hochschulen leistungs- und zukunftsfähige digitale Lehrangebote neu oder weiter entwickeln können. Weitere 4 Mio. Euro stehen für eine langfristig angelegte Gesamtstrategie bereit. Dazu beraten MWK und VolkswagenStiftung gemeinsam mit den Hochschulen in der Dachinitiative "Hochschule.digital Niedersachsen", wie die neu geschaffenen digitalen Strukturen fest etabliert und konsequent ausgebaut werden können.