"Die Krise hebt manches hervor…"

Die in Berlin lebende Autorin Sharon Dodua Otoo, Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2016, war als Expertin zu der nun abgesagten Veranstaltung "Entkolonialisiert euch!" eingeladen. Im Kurzinterview beschreibt sie ihre aktuelle Gemütslage und warum das Thema Rassismus auch in diesen Zeiten stärker ins Bewusstsein rücken sollte.

Wie sieht Ihr (Arbeits-)Alltag angesichts der aktuellen Krisensituation aus, kommen Sie überhaupt dazu, sich Ihrem Arbeitsfeld zu widmen?

Sharon Dodua Otoo: Aktuell hat sich mein allerwichtigstes Werkzeug – ein freier Kopf – für mehrere Wochen, gar Monate verabschiedet. Ich bin weiterhin kreativ, aber meine Energie reicht momentan nur für die Sorgearbeit aus, das heißt, ich versuche, vor allem zwischen Homeschooling, Putzen und Kochen, eine Alltagsstruktur ins Leben zu rufen, die es uns erlaubt, gut auf einander aufzupassen und auf unsere eigenen Bedürfnissen zu achten. Ich habe kein eigenes Zimmer mehr. Meine Möglichkeiten in Ruhe nachzudenken, beschränken sich auf eine oder zwei Stunden am frühen Morgen, wenn die Kinder noch schlafen. Wenn ich dann meinen Gedanken freien Lauf lasse, merke ich, wie viele Ängste ich habe. Noch blockieren mich meine Ängste – ich schreibe wenig, ich lese noch weniger – aber ich habe Hoffnung, dass ich sie bald auch in Kreatives umwandeln kann.

Haben Sie den Eindruck, dass wir im aktuellen Krisenmodus in alte Denkmuster zurückfallen und die Sensibilität für Alltagsrassismus verlieren?

Ich glaube nicht, dass wir in alte Denkmuster zurückfallen. Ich glaube, die Krise hebt manches hervor, das immer da war. Wir wissen von Journalistinnen wie Nhi Le und anderen Personen, die seit Ende Januar unter dem Hashtag #IchBinKeinVirus geschrieben haben, dass Menschen der Asiatischen Diaspora erhebliche Diskriminierungen in Deutschland und anderswo erlebt haben. Vietnamesische, koreanische und chinesische Restaurants erfuhren einen drastischen Rückgang von Kundinnen und Kunden noch vor Anfang der sogenannten Social-Distancing-Maßnahmen. Aufgrund des anti-asiatischen Rassismus wurden einige Personen in öffentlichen Räumen gemieden oder angegriffen –  und andere Personen verloren ihre Arbeit. Es wäre aber ein Fehler zu glauben, dass diese Ressentiments plötzlich aus dem Nichts kamen. Ich empfehle allen, die sich gerne weiter über asiatische und asiatisch-deutsche Perspektiven informieren wollen, die Website des in 2008 gegründeten Vereins Korientation zu besuchen. 

Was ist denn eine typische Falle, in die auch aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger immer wieder mal tappen?

Neulich habe ich auf Twitter gelesen, dass die Autorin und Journalistin Ferda Ataman große Kritik geerntet hat, weil sie strukturellen Rassismus im Gesundheitssystem thematisiert hat. Einerseits verstehe ich die Empörung darüber. Für Menschen, die sich nie oder kaum Gedanken über Rassismus machen, fühlt sich Atamans Aussage möglicherweise wie ein Angriff an. Ein Angriff gegenüber allen, die im deutschen Gesundheitssystem aktuell Großartiges leisten, denen ich an dieser Stelle von Herzen danken möchte. Andererseits ist genau diese Art von Empörung eine typische Falle. Rassismus ist nicht (nur) eine Beschreibung von vorsätzlichem, bösem, völkermörderischem, dämonischem Verhalten, sondern er ist (auch) eine messbare, belegbare faktische Beschreibung von Verhältnissen in unterschiedlichen Systemen, z.B. Justiz, Sozialwesen und Bildung. In ihrem Beitrag "Black Feminism" (auf YouTube abrufbar) analysiert die Wissenschaftlerin Dr. Vanessa Eileen Thompson, wie die Corona-Krise bereits existierende Ungleichheiten verstärkt. Marginalisierte Menschen haben nicht den gleichen Zugang zum Gesundheitssystem. Das ist gefährlich und kann zu ihrem frühzeitigen Tod führen. Wir können die Ursachen dafür erst beheben, wenn wir bereit sind, sie wahrzunehmen.

Was möchten Sie uns für die nächsten Wochen gerne mit auf den Weg geben?

Ich bin dankbar, dass ich gerade gute Gesundheit genieße, keine gefährliche Vorerkrankungen habe, dass ich ein Zuhause habe, wo ich mich zurückziehen kann, und dass ich sowohl im privaten als auch im professionellen Bereich Unterstützung erfahre. Das haben nicht alle. Ich bitte alle, achtsam mit sich selber umzugehen, und wenn möglich, anderen Hilfe anzubieten. Es ist eine zutiefst verunsichernde Zeit. Ich wünsche uns allen das Beste.

Interview: Katja Ebeling

 

"Entkolonialisiert Euch! Wie uns längst überkommene Denkmuster prägen" war Titel eines für den 1. April 2020 geplanten Herrenhäuser Forums, das aufgrund der Corona-Krise abgesagt werden musste. Deutschlandfunk Kultur hat ein Gespräch der Podiumsgäste Sharon Dodua OtooBénédicte Savoy, Christian Geulen und Katharina Oguntoye organisiert und aufgezeichnet, das hier in der DLF-Audiothek abgerufen werden kann.

Sharon Dodua Otoo, Autorin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2016 (Foto: Ralf Steinberger)