Wie schaffen wir das? - Zuwanderung als Herausforderung und Chance

In der Flüchtlingsfrage regieren oft "gefühlte Fakten", Protest und Idealismus. Doch wir brauchen Antworten: Wie lässt sich mit Zuwanderung umgehen? Veranstaltungsbericht und Audio zur Podiumsdiskussion am 16. März 2017 im Schloss Herrenhausen, veranstaltet von der VolkswagenStiftung im Rahmen des Herrenhäuser Symposiums "Umbruch durch Migration" in der Reihe "Herrenhausen Extra" und moderiert von der Journalistin Asli Sevindim.

Zwischen Aktualität und Geschichte

Bei den Parlamentswahlen in den Niederlanden am 15. März 2017 landete der Rechtspopulist Geert Wilders "nur" an zweiter Stelle. Dass seine Partei aber überhaupt so viele Wählerstimmen erhielt, hängt eng mit den Debatten um Flucht und Zuwanderung zusammen: Hunderttausende Menschen sind in den letzten beiden Jahren nach Europa gekommen – angetrieben durch Krieg, Hunger, Perspektivlosigkeit. "Einige Niederländer, die Geert Wilders gewählt haben, dachten sich vielleicht, dass er dafür sorgt, dass das mit der Migration endlich aufhört", spekuliert die Moderatorin Asli Sevindim zur Eröffnung der Podiumsdiskussion des Herrenhausen Extra "Zuwanderung - Eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft". "Migration lässt sich nicht abschaffen und auch nicht von Zäunen aufhalten. Migration ist ein Phänomen, das sich quer durch alle Zeiten zieht", kontert Prof. em. Dr. Klaus J. Bade und spricht vom Menschen als "homo migrans". Der emeritierte Professor für Neueste Geschichte, der bis 2012 als Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration fungierte, stellt klar, man könne nicht die Augen vor dem Phänomen von Flucht, Vertreibung und Migration verschließen, sondern müsse lernen damit umgehen. Nicht die Flüchtlingswelle sei das Problem, sondern unser Umgang mit ihr. Bade zitiert William Lacy Swing, den Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration: "Migration is not a problem to be solved; it’s a reality to be managed."

Gegen die Problematisierung von Zuwanderung

Der in Moskau geborene Schriftsteller und Publizist Boris Schumatsky wünscht sich, Migration würde als Normalität anerkannt. Er sehe das eigentliche Problem gerade in der Problematisierung von Migration. Sie werde nicht als geschichtliche Normalität akzeptiert, sondern als sozialer Ausnahmezustand. Deshalb sei die sogenannte Flüchtlingskrise in seinen Augen eine "Krise der Wahrnehmung". Auch Doris Schröder-Köpf (SPD), die niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, mahnt Gelassenheit an. Besonders das Bundesland Niedersachsen habe viel Übung mit Integration: "Niedersachsen hat Zuwanderung in seiner DNA." Davon könne man sich beispielsweise im Museum des Grenzdurchgangslagers Friedland überzeugen. Dort sei dokumentiert, wie die Flüchtlingswellen der Nachkriegszeit, die Emigranten aus der DDR und der Sowjetunion, die Spätaussiedler und Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien. Im Moment, so Schröder-Köpf, kämen die meisten Zuwanderer aus Polen.

Laut Schriftsteller und Publizist Boris Schumatsky sollte Migration als geschichtliche Normalität akzeptiert werden. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)

Der Ökonom Prof. Dr. Thomas K. Bauer, seit 2016 Vorsitzender des

Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration, plädiert dafür, den verbreiteten Ängsten im öffentlichen Diskurs Fakten entgegen zu setzen. So hätten Einwanderungswellen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen bisher nie Arbeitsplatzmangel oder Lohnsenkungen nach sich gezogen. Und auch die Terrorgefahr habe nicht messbar zugenommen. Solche Fakten müssten stärker in die Diskussionen einfließen.

Suche nach Identität: Wer sind "Wir"?

Hendrik Brandt, der Chefredakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, sieht in der momentanen Lage durchaus Konfliktpotential. Er beobachte eine zunehmende Verunsicherung über das verbindende "Wir", welches zum Beispiel in Angela Merkels berühmten Satz "Wir schaffen das" vorkomme. Globalisierung und Digitalisierung schürten Abstiegsängste und Abschottungstendenzen.

Prof. Dr. Thomas K. Bauer plädiert dafür, dass verbreiteten Ängsten verstärkt Fakten entgegengesetzt werden sollten. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)

Das "Wir", das Gefühl, das Deutsche verbinde, sei nicht mehr so klar zu fassen, meint Brandt. Publizist Schumatsky hingegen begrüßt diese Entwicklung, sei das kulturelle Wir-Gefühl bisher doch immer in den "hässlichsten" Phasen der Geschichte am stärksten gewesen. Brandt hält dagegen: Er sehe eine Notwendigkeit, sich auf ein gemeinsames "Wir" zu verständigen, um der Integration eine Richtung zu geben. Schröder-Köpf ergänzt, eine solche gemeinsame, richtungsweisende Basis bestehe bereits im Grundgesetz: "Das Grundgesetz ist unsere Hausordnung," sagt sie, "Und wer sich danach verhält, gehört zum 'Wir' dazu, unabhängig von seiner Herkunft."

Ideal versus Realität

Dieser einfachen Definition widerspricht Moderatorin Asli Sevindim. Das Zugehörigkeitsgefühl fehle vielen Menschen mit Migrationshintergrund selbst noch in der zweiten und dritten Generation. Sevindim verweist auf den Migrationsforscher Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan, der in einem Fachartikel eine psychologische Studie zitiert habe, nach der ein Großteil der türkischstämmigen Jugendlichen das Etikett "Ausländer" als Teil ihrer Identität begreife. Sevendim habe diese Selbsteinschätzung tief erschüttert. Denn wenn sich in Deutschland geborene Jugendliche mit migranten Familienwurzeln noch als "Ausländer" betrachten, sei Integration doch gescheitert.  Prof. Bade verweist auf die Politik, die sich jahrzehntelang dagegen gesperrt habe, sich auf die absehbaren Konsequenzen der Anwerbung Hunderttausender ausländischer Arbeitskräfte in den 1960er und 1970er Jahren vorzubereiten. "Dass diese Arbeitskräfte ihre Familien nachholen und nicht in ihre Ursprungsländer zurückkehren würden, war doch klar", meint Prof. Bade. Stattdessen hätten konservative Regierende immer wieder beteuert, Deutschland sei kein Einwanderungsland und auf diese Weise jene Haltung in der deutschen Bevölkerung genährt, die heute ein Teil des Problems sei. "Ein Migrationskonzept fehlt nach wie vor. Das muss her. Die Zeit läuft uns davon." HAZ-Chefredakteur Hendrik Brandt sieht auch die Zuwanderer selbst verstärkt in der Pflicht; es gebe durchaus "Integrationsverweigerer".

Hendrik Brandt, Chefredakteur Hannoversche Allgemeine Zeitung. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)

Untrennbar verknüpft: Integration und Bildung

In einem Punkt sind sich jedoch alle Diskutanten einig: Die Wurzeln für das Gelingen und Scheitern von Integration lägen vor allem im Bildungssystem. Schröder-Köpf betont, die Chancenungleichheit dieses Systems betreffe keineswegs nur Flüchtlinge und Migranten, sondern auch viele andere Jugendliche. Die aktuelle Flüchtlingsthematik werfe ein Schlaglicht auf generelle Defizite im System. Schröder-Köpf fordert: "Das Bildungssystem muss durchlässiger gemacht werden." Konkret schlägt sie vor, mehr Möglichkeiten zum Nachholen von Bildungsabschlüssen zu schaffen und dem dualen Ausbildungssystem einen weniger theoretisierenden Weg hinzuzufügen. "Die, mit denen ich spreche, wollen Arbeit und Kontakte in ihrer deutschen Nachbarschaft. Gedichtanalysen und Kunstinterpretationen stehen weniger hoch im Kurs." HAZ-Chefredakteur Brandt verweist auf immer mehr Schulklassen, in denen Kinder aus vielen Ländern und ohne Deutschkenntnisse säßen. Auf "Deutsch als Fremdsprache" seien die meisten Lehrer nicht vorbereitet. Darum hätte sich auch Niedersachsens Regierung bislang zu wenig gekümmert. Doris Schröder-Köpf widerspricht mit einem Hinweis auf inzwischen 700 Sprachlernklassen.

Doris Schröder-Köpf, Abgeordnete des niedersächsischen Landtages sowie niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)

Zuwanderung als Chance?

Doch nicht nur in der Ausbildung, auch auf dem Arbeitsmarkt bestehe Nachbesserungsbedarf, finden die Experten. Beispielsweise würden ausländisch klingende Namen bei Bewerbungen immer noch benachteiligt. Zudem fehle es an einem transparenten Einwanderungsgesetz, das Fachkräften den Weg nach Deutschland ebne, findet Prof. em. Dr. Bade: "Das hätten wir schon vor 20 Jahren haben sollen." Auch sein Wissenschaftskollege Prof. Dr. Bauer ist überzeugt: "Wir werden in Zukunft Zuwanderung benötigen, insbesondere Fachkräfte." Wie ein gutes Einwanderungsgesetz aussehen könnte - darauf können sich die Anwesenden jedoch nicht einigen.

Von Kulturoptimismus und -pessimismus

Auf die Frage, ob in der Bevölkerung überhaupt die Bereitschaft für ein Einwanderungsgesetz herzustellen sei, reagiert Chefredakteur Brandt betont optimistisch. Man dürfe die öffentliche Resonanz, die die AfD erzeuge, nicht überbewerten: "80, 90 Prozent der Deutschen lehnen die AfD und deren ausländerfeindlichen Parolen ab." Brandt verweist auf die Hilfsbereitschaft, die viele Deutschen den Flüchtlingen entgegenbringen: "Wir kriegen das ganz gut hin in Deutschland." Er erntet dafür Applaus. Der emeritierte Prof. Dr. Bade hebt in seinem Schlussplädoyer hervor, die Bewertung der aktuellen Lage falle unterschiedlich aus, je nachdem ob man Kulturoptimist oder -pessimist sei. Er sei sich sicher, dass in Prozessen der Integration und Akzeptanz von Migration vor allem eines nötig sei: ein langer Atem.

Janina Martens

Prof. em. Dr. Klaus J. Bade, Gründungsmitglied und erster Vorsitzender (2008-2012) des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)