Unterwasserwelt erstmals beobacht-, erfahr- und erforschbar – Opus Primum für Buch über Geschichte des Aquariums

Für ihr Werk "Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910)" wird Dr. Mareike Vennen in diesem Jahr mit dem Opus Primum Förderpreis für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler (dotiert mit 10.000 Euro) ausgezeichnet. Im Interview erzählt sie vom Buch und ihren Recherchen dazu. Zudem gibt es Karten zu gewinnen für die festliche Verleihung des Preises in Hannover.

Wie sind Sie auf dieses Thema für Ihre Doktorarbeit, die Grundlage dieses Sachbuches ist, gekommen? Sind Sie privat ein Fan oder gab es vor allem fachliche Gründe?

Dr. Mareike Vennen: Obwohl ich selbst früher ein Aquarium hatte, war der Ausgangspunkt für die Arbeit zuallererst ein historisches Interesse: Ab wann und vor allem wie wurde versucht, das unüberschaubare, buchstäblich unfassbare Meer ins bürgerliche Interieur hinein zu holen? Schon meine ersten Recherchen zeigten allerdings, dass das Aquarium anfangs keineswegs eine reine Zierde für den heimischen Salon war, sondern vor allem ein Wissensding, mit dem Amateure geforscht und vielfältige Experimente angestellt haben.

Ich habe mir viele der unzähligen Beschreibungen der frühen Aquarianer und die teils euphorischen Eindrücke des Publikums in den ersten großen Schauaquarien angeschaut – und schnell ist mir klar geworden, wie sensationell der durch Aquarien vermittelte Blick in die Unterwasserwelt damals war. Ich wollte herausfinden, welches Wissen, welche Imaginationen über die Unterwasserwelt und welche Vorstellungen von Natur und ihrer Beherrschbarkeit damit einhergingen. Die neuen Einblicke in das Leben unter Wasser waren damals jedoch nur um den Preis unzähliger Unfälle und Fehlschläge zu haben. Gerade die erwiesen sich aber wissensgeschichtlich als besonders produktiv.

Könnten Sie für uns noch ein bisschen mehr ins Detail gehen, worum es konkret geht?

Dr. Mareike Vennen: Das Buch ist gleichzeitig eine Wissensgeschichte des Aquariums und eine Mediengeschichte naturkundlichen Wissens. Konkret betrachte ich darin die frühe Geschichte des Aquariums im 19. Jahrhundert. Ich setze mit der Frage ein, wie das Aquarium die Unterwasserwelt erstmals und auf gänzlich neue Weise beobachtbar, erfahrbar und erforschbar gemacht hat. Im Zentrum steht die Frage, durch welche Praktiken, Techniken und Medien neues Wissen über die Unterwasserwelt produziert, präsentiert und vermittelt wurde. Das Spannende an der Geschichte ist, dass sie von Amateurforschern und Naturkundlern ausgeht. Um 1850 begannen sie vor allem in Großbritannien mit Aquarien im eigenen Heim zu experimentieren, um die Bedingungen des Lebens unter Wasser zu erforschen.

Gerade diese frühe private, amateurwissenschaftlich betriebene Aquarienpraxis ist ein wichtiger Schauplatz in der Geschichte ökologischen Wissens und künstlicher Umwelten. Denn im Gegensatz zu den damaligen Forschungsinstitutionen waren hier lebendige Wassertiere beobachtbar, denen man zudem im Unterschied zu anderen Heimtieren zumindest eine minimale Umwelt schaffen musste. Aquarienhaltung machte damit ein Wissen über die Beziehungen zwischen Lebewesen und ihren Umwelten zur Notwendigkeit. In meinem Buch betrachte ich neben diesen ersten Versuchen mit Heimaquarien aber auch deren Verbreitung in ganz Europa und ihre Ausdifferenzierung in Heim-, Schau- und Forschungsaquarien um 1900.

Bei der Lektüre des Buches fällt auf, dass Sie die Thematik besonders interdisziplinär angehen. Wo bestanden darin Herausforderungen?

Dr. Mareike Vennen: Ich musste mich in ganz unterschiedliche Themenbereiche einarbeiten und habe beispielsweise untersucht, wie Aquarien seinerzeit hergestellt wurden, wie die Temperatur im Glasbehälter reguliert wurde und wie die Tiere gesammelt und transportiert wurden. Das bedeutete für mich, neben der Naturgeschichte auch die Postgeschichte mit einzubeziehen, ebenso wie bürgerliche Sammelmoden, die damalige Nutzung von Küsten und Stränden, die Naturtheologie und nicht zuletzt auch die Glasproduktion im 19. Jahrhundert sowie die Entwicklung städtischer Wasserwerke. Hierzu ein Beispiel: Gerade zu Anfang war das Aquarium ein offenes Objekt, das Verbindungen mit dem bürgerlichen Interieur aber auch städtischen Infrastrukturen einging. Die Entwicklung der Aquarientechnik im 19. Jahrhundert zeigt auf, dass immer komplexere Apparate und Hilfsmittel erfunden wurden, um etwa das Wasser zu "durchlüften" oder die Temperatur zu regulieren. Die genutzte Technik reichte von Wasserreservoirs im Keller über Rohre bis zu Pumpen auf dem Dachboden. Sie nahm häufig das ganze Haus ein und wurde im Laufe der Zeit auch an die neu installierten städtischen Wasserleitungen angeschlossen. Damit wurden die Heimaquarien Teil der Diskurse um Hygiene und Wasserqualität, wie sie in Großstädten wie London oder Hamburg damals intensiv geführt wurden.

Eine weitere Herausforderung bei meiner Forschung war, dass aus der frühen Aquariengeschichte nur wenige originale Objekte und Materialien erhalten sind. Darüber habe ich jedoch viel durch die Gebrauchsliteratur, Aquarien-Tagebücher oder Vereinsprotokolle erfahren, um so der Wissensgeschichte des Aquariums auf die Spur zu kommen.

Gab es für Sie im Zuge der Recherchen ein oder mehrere besonders skurrile oder amüsante Erkenntnisse, die Sie gewonnen haben?

Dr. Mareike Vennen: Die frühe Aquariengeschichte ist voll von Berichten und Bildern, die für uns heute amüsant klingen, aber gleichzeitig ins Herz der Wissensgeschichte treffen: Um Aquarien im eigenen Heim aufzustellen, mussten die Tiere erst einmal dorthin gelangen. Viele Wasserlebewesen zerfielen aber schon beim bloßen Kontakt mit der Luft in formlose Massen, sodass den Aquarianern ihre Wissensobjekte häufig buchstäblich zwischen den Fingern zerrannen. Seeanemonen dagegen waren leicht zu sammeln und zu verschicken, weil sie ohne Wasser reisen konnten. Es genügte, sie in feuchtes Seegras zu wickeln. Anfangs gab es jedoch weder geregelte Versandvorschriften noch einheitliche Verpackungsweisen. So kam es vor, dass die Postboten tropfende Briefsendungen ablieferten oder improvisierte Verpackungen mit ihrem lebenden Inhalt von Poststempeln zerquetscht wurden. Es lohnt, solch vermeintlich randständige Fragen der Verpackungs- und Transportgeschichte genauer in den Blick zu nehmen, weil sie zeigen, wie sich neues Wissen ausgebildet und gefestigt hat und auf dieser Basis Standards etabliert wurden.

Ein weiteres Beispiel ist der Schlamm, einer der hartnäckigsten Störfälle im Aquarium. Er galt anfangs als überflüssiges und lästiges Abfallprodukt im Aquarium, da er die Einsicht trübte und das Gleichgewicht störte. Im Laufe der Zeit wurde er jedoch vom störenden Element selbst zu einem Wissensding umgewertet, als Meeresforscher bei ihren Aquarienversuchen feststellten, dass er ein wichtiger Bestandteil des Milieus war.

Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert, die der weiteren Forschung oder Fortbildung im Forschungsgebiet dienen. Wissen Sie schon, was Sie damit anfangen wollen? Können wir uns vielleicht auf ein weiteres spannendes Buch freuen?

Dr. Mareike Vennen: Eine solche finanzielle Unterstützung für meine Forschung ist natürlich unglaublich! Das schafft ganz neue Freiräume im eigenen Denken und gleichzeitig tolle Möglichkeiten für interdisziplinäre Kooperationen, die ja immer Zeit und Mittel benötigen. Es lohnt sich, denke ich, auf jeden Fall, das Thema der Aquariengeschichte ins 20. und 21. Jahrhundert weiter zu verfolgen und zugleich die Fragen der Wissens- und Mediengeschichte von Umwelt und vor allem technischen Umwelten weiter auszubauen. Ich habe aber auch viele Ideen für neue Projekte im Kopf, aus denen hoffentlich auch wieder ein Buch entsteht. Wir haben gerade angefangen, in einem neuen BMBF-Verbundprojekt über die historischen und aktuellen Verbindungen zwischen Naturkundemuseen und Zoologischen Gärten zu forschen – mit den Tieren geht es also weiter.

Das Interview führte Tina Walsweer.

Die Autorin steht Medienvertreterinnen und -vertretern für Interviews zur Verfügung. Anfragen richten Sie bitte direkt an Jens Rehländer (Kontaktdaten siehe Randspalte) oder an presse@volkswagenstiftung.de.

Bibliografische Angabe

"Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910)", Mareike Vennen; Wallstein Verlag, 2018; 432 Seiten mit Abb., 37,00 Euro

Biografische Daten

Dr. Mareike Vennen, Jg. 1982, ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der TU Berlin. Sie promovierte 2016 an der Bauhaus-Universität Weimar und forscht aktuell zur Medien- und Wissensgeschichte der Naturkunde sowie zu Sammlungs- und Museumskulturen im 19. und 20. Jahrhundert.

Hintergrundinformationen zum Förderpreis Opus Primum

Ob Geistes- oder  Gesellschaftswissenschaften, Kultur- oder Naturwissenschaften, Informatik, Erziehungs- oder Musikwissenschaften – nicht das Fachgebiet ist entscheidend für die Auswahl zum Opus Primum. Einzig, dass eine deutschsprachige Publikation gut lesbar geschrieben, einem breiten Publikum verständlich und von hoher wissenschaftlicher Qualität sein muss, ist Voraussetzung, um für den Förderpreis infrage zu kommen. Die VolkswagenStiftung möchte mit der Auslobung des Opus Primum den wissenschaftlichen Nachwuchs stärken und unterstreichen, dass Wissenschaftsvermittlung für die Forschung eine zentrale Aufgabe ist.

Der Preis richtet sich ausdrücklich an junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in der Regel nicht älter als 35 Jahre sein sollten. Die Publikationen müssen über die jeweiligen Verlage eingereicht werden, welche sich mit jeweils bis zu drei Titeln bewerben können. Das Preisgeld in Höhe von 10.000 Euro geht an die Autorin bzw. den Autor und ist zur eigenen Weiterbildung im Forschungsfeld, dem Besuch von wissenschaftlichen Konferenzen oder zur Anschaffung von Literatur für Forschungsvorhaben gedacht.

Weitere Informationen zu der Förderpreis Opus Primum der VolkswagenStiftung.

Dr. Mareike Vennen, Preisträgerin des Opus Primum 2018. (Foto: Markus Hilbich)