Programmiert auf ein gesundes Leben – Frühkindliche Prägung als Thema in Herrenhausen

Legt der kindliche Körper in den ersten zwei Lebensjahren durch Mikroorganismen aus der Umwelt seinen Schutz vor bestimmten Krankheiten fest? Lesen Sie den Veranstaltungsbericht zum Herrenhäuser Forum im Schloss Herrenhausen am 15. Juni 2017, veranstaltet von der VolkswagenStiftung in Kooperation mit Spektrum der Wissenschaft.

Kindeswohl und Entscheidungen

In den ersten Lebensjahren eines Kindes dreht sich das Leben der Eltern um eine Vielzahl pragmatischer Fragen: rund um die richtige Wahl von Krankenhaus, Wohnort oder Kindersitz. "Vermutlich kommt die Frage nach Faktoren für eine günstige Beeinflussung des Mikrobioms dabei noch eher selten vor", nimmt Dr. Joachim Retzbach, Moderator des Herrenhäuser Forums "Frühkindliche Prägung – Wie glückt der Start ins Leben?" und Wissenschaftsjournalist unter anderem für den Verlag Spektrum der Wissenschaft, an. Das liege wohl daran, dass die Forschungen dazu noch recht jung seien. Die VolkswagenStiftung organisierte im Dezember des Jahres 2016 in Schloss Herrenhausen in Kooperation mit Prof. Dr. Mathias Hornef (Universitätsklinik Aachen) und Prof. Dr. Harald Renz (Universität Marburg) eine internationale Konferenz zum Thema (Konferenzbericht hier nachzulesen). "Als Wissenschaftsförderer ist es uns auch ein Anliegen, die Ergebnisse in die Gesellschaft zu tragen", erklärt Mareike Rüßmann von der Stiftung die Motivation, einige Experten nochmals zu einer öffentlichen Diskussion einzuladen.

Mikroorganismen und Einflüsse

Dr. Joachim Retzbach beginnt seine Einführung mit einer Definition des vielen nicht geläufigen Begriffs "Mikrobiom". Der menschliche Körper, vor allem Darm und Haut, seien besiedelt von etwa 100 Billionen Mikroorganismen, also zum Beispiel Bakterien und Pilzen. "Die lösen in den seltensten Fällen Krankheiten aus", erläutert Retzbach. "Vielmehr sind sie meist neutral oder sogar nützlich." Die Aufmerksamkeit der Forschung konzentriere sich seit einigen Jahren vor allem auf die individuelle Zusammensetzung dieser Mikroben, die sich offenbar innerhalb der ersten Lebensjahre aus verschiedenen Umwelteinflüssen ergebe. "Eine Zeit lang lernt das Immunsystem so, bestimmte Entwicklungen, wie die von Allergien oder Autoimmunerkrankungen, zu vermeiden", berichtet Retzbach. Auch die Entstehung von Übergewicht oder psychischen Erkrankungen werden durch das Mikrobiom beeinflusst.

Lebenserwartung und Lebensstil

Mit einem Blick auf die historische Entwicklung bestimmter Erkrankungen beginnt Prof. Dr. Mathias Hornef seinen anschließenden Impulsvortrag. Er ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Universitätsklinik Aachen.

Der Wissenschaftsjournalist Dr. Joachim Retzbach moderierte den Abend und berichtete, dass der menschliche Körper von etwa 100 Billionen Mikroorganismen besiedelt sei.

"Einerseits hat die Kindersterblichkeit bei uns in den vergangenen hundert Jahren enorm abgenommen und so hat sich die Lebenserwartung fast verdoppelt", führt er aus. Das sei vor allem ein Resultat von besserer Hygiene, Impfungen und Veränderungen in Ernährung und Lebensstil. "Andererseits haben entzündliche oder allergische Erkrankungen wie Diabetes, Asthma, Multiple Sklerose oder Morbus Crohn zugenommen", gibt Hornef zu bedenken. Man führe dies inzwischen auf einen mangelnden Kontakt mit den richtigen Mikroorganismen aus der Umwelt zurück. "Kinder mit vielen Geschwistern haben seltener Heuschnupfen, und solche, die auf einem Bauernhof aufwachsen, fast niemals Asthma", berichtet Hornef.

Faktoren und Prägung

Wesentlich für die Gesundheit seien Zusammensetzung und Gleichgewicht von Darmbakterien, erläutert Prof. Dr. Mathias Hornef: "Bestimmte Bakterien wirken auf bestimmte Immunzellen." In einem stabilen Mikrobiom gebe es außerdem keinen Platz für eindringende pathogene Bakterien, die Infektionserkrankungen auslösen können. Hornef benennt als wesentliche Faktoren für die Zusammensetzung des Mikrobioms Art und Ort der Geburt, Zahl der Geschwister, Haustiere, umgebende Natur, Genetik und vor allem Ernährung. Die Prägung finde in einem Zeitfenster von einem bis drei Jahren nach der Geburt statt, so Hornef: "Danach bleibt das System für den Rest des Lebens unverändert stabil." Seit sich das Immunsystem des Menschen im Laufe der Evolution entwickelt hat, haben sich die Lebendbedingungen stark verändert. "Vielleicht fehlen uns heute bestimmte Faktoren für eine gute Funktion," folgert Hornef, "und vielleicht können wir diese irgendwann wieder ergänzen."

Zivilisation und Risikofaktoren

Prof. Dr. Harald Renz vom Institut für Laboratoriumsmedizin, Pathobiochemie und Molekulare Diagnostik der Universität Marburg beginnt seinen Impulsvortrag mit einer Prognose: "Die Hälfte von Ihnen wird an Krebs sterben, die andere Hälfte an den Folgen einer chronischen Krankheit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen eingeschlossen." Vor hundert Jahren seien die häufigsten Todesursachen hingegen Infektionen, Unfälle und Verletzungen gewesen. "Eine Krankheit wie Asthma gab es gar nicht", erklärt Renz. Heute leide hingegen etwa jeder Dritte an Asthma, Heuschnupfen, Neurodermitis oder einer Nahrungsmittelallergie.

Prof. Dr. Mathias Hornef, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Universitätsklinik Aachen, erklärte, dass zwar die Kindersterblichkeit abgenommen, dafür aber entzündliche und allergische Erkrankungen zugenommen haben.

Renz ist sicher: "Chronische entzündliche Erkrankungen sind Zivilisationserkrankungen." Lebensweise und Umwelt haben sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stark verändert, während die genetische Ausstattung seit zwei oder drei Generationen größtenteils unverändert sei. Seit den 70er-Jahren sei es gelungen viele Allergene und Risikofaktoren zu identifizieren, so Renz: "Ob wir rauchen oder uns Abgaspartikeln aussetzen, können wir beeinflussen."

Mega-Städte und Bauernhöfe

"Es muss jedoch auch protektive Faktoren geben," führt Prof. Dr. Harald Renz aus, "denn es bleiben ja auch einige gesund – was schützt uns also?" Die Mikrobiomforschung untersuche also vor allem das frühe Training des Immunsystems. Dass dabei Lebensweise und kulturelle Prägung eine große Rolle spielen, sei auch an der Entwicklung von neuen Industrieregionen und Mega-Städten ablesbar, berichtet Renz: "Die Urbanisierung führt zu einem schnellen Anstieg chronischer Erkrankungen." Manche protektiven Maßnahmen seien dabei nicht kompliziert. "Einen bessere Immunbildung als auf dem Bauernhof können wir heute nicht finden", spitzt Renz zu. "Die Mikroben des ländlichen Milieus schützen bereits ungeborene Kinder vor Asthma." Zwar seien Neugeborene steril, doch ein Fötus reagiere im Mutterleib bereits auf Keime der Mutter: "Das ist der Beginn des Immuntrainings."

Prävention und Breitenwirkung

Prof. Dr. Harald Renz benennt eine ganze Reihe von potenziellen Faktoren: Die Pasteurisierung und Homogenisierung von Milch entferne wichtige Bakterien. Eine Geburt per Kaiserschnitt, für die oft keine medizinische Indikation vorliege, enthalte dem Neugeborenen Keime vor, denen es bei einer Vaginalgeburt ausgesetzt sei. Es bestehe eine mögliche Wechselwirkung zwischen den Mikrobiomen von Menschen und Haustieren. Und letztlich sei auch jedes Nahrungsmittel von Mikroben besiedelt. "Im entscheidenden Zeitfenster von etwa 1.000 Tagen nach dem Beginn der Schwangerschaft kann vieles richtig oder falsch gemacht werden", stellt Renz fest und ergänzt: "Prävention ist heute die große Herausforderung in der Medizin – wir dürfen nicht mehr warten, bis die Patienten krank werden." Es gehe darum. Methoden zu finden, die breit in der ganzen Bevölkerung eingesetzt werden können.

Prof. Dr. Harald Renz vom Institut für Laboratoriumsmedizin, Pathobiochemie und Molekulare Diagnostik der Universität Marburg erklärte, dass es vor hundert Jahren eine Krankheit wie Asthma noch gar nicht gab.

Dogmen und Zusammenhänge

Prof. Dr. Dorothee Viemann lehrt als Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie warnt in der Diskussion davor, jetzt schon Dogmen zu formulieren: "Ganz vieles ist noch präklinisch." Es gehe jetzt vor allem darum, Zusammenhänge zu erkennen. "Allerdings können wir relativ sicher sein, dass eine vielfältige Umwelt einen Vorteil verschafft", fügt sie an. "Wir dürfen die Kinder nicht mehr von ihrer Umwelt fernhalten." Prof. Dr. Harald Renz stimmt zu, dass viele Umweltfaktoren in ihrer positiven Auswirkung noch nicht entschlüsselt wurden: "Wir wissen nicht genau, warum Kinder von Anthroposophen fast kein Asthma bekommen – oder warum es in der DDR fast keines gab." Prof. Dr. Mechthild Groß, Leiterin der AG Hebammenwissenschaft an der Medizinischen Hochschule Hannover, weist auf einen möglichen Einfluss der Milchbanken in der DDR hin: "Muttermilch ist definitiv ein protektiver Faktor."

Prof. Dr. Dorothee Viemann, Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, berichtete, dass dass eine vielfältige Umwelt dem Immunsystem einen Vorteil verschafft.

Viemann berichtet davon, dass Kinderkliniken heute wieder mit dem Aufbau von Milchbanken beginnen, und Groß bestätigt, dass sich hier gerade ein neues Netzwerk bilde.

Würmer und Pilze

Prof. Dr. Mathias Hornef ergänzt, dass der Rat, Kinder gegenüber einer Vielfalt von Mikroorganismen zu exponieren, keinesfalls gegen einen Impfschutz vor schweren Infektionskrankheiten spreche: "Das Immunsystem wird auch durch eine Erkältung trainiert, wir müssen uns keinen unnötigen Risiken aussetzen." Hier müsse deutlich unterschieden werden, welche Erreger pathogen bzw. stark krankmachend seien. Vor anderen Mikroben ekle man sich hingegen heute schnell, ihre Rolle werde jedoch möglicherweise unterschätzt. "Unser Immunsystem hat sich in der Evolution gebildet, als jeder Mensch von Würmern besiedelt war", erläutert Hornef. "Weltweit ist das heute noch bei vielen Menschen so." Es werde vermutet, dass Würmer vor Allergien schützen. Auch bestimmte Pilze im Darm hält er für unbedenklich: "Jeder, der Bier und Käse zu sich nimmt, besiedelt seinen Darm mit Pilzen." Und Prof. Dr. Harald Renz warnt vor einem zu schnellen Einsatz von Antibiotika gegen Erreger, vor allem aber sei deren landwirtschaftlicher Einsatz problematisch: "Das Mikrobiom von Masttieren wird bewusst verändert."

Stabilität und Individualität

Ein Mikrobiom sei ein komplexes System, betont Prof. Dr. Mathias Hornef nochmals. Rund zwei Jahre sei es nach der Geburt offen für verschiedene Bakterien – etwa 300 Arten enthalte es, wenn es sich ausgebildet hat. "Dann ist es so stabil, dass es jeden Menschen individuell erkennbar macht, wie ein Daumenabdruck", erklärt Hornef. Die Forensik erwäge bereits, dies für Identifikationen nutzbar zu machen. Erwachsene könnten nur noch sehr beschränkt einzelne Mikroben in ihr fertiges Mikrobiom aufnehmen. Dies schütze auch vor pathogenen Erregern: "Auch die Salmonelle findet dann ja keinen Platz mehr."

Prof. Dr. Mechthild Groß, Leiterin der AG Hebammenwissenschaft an der Medizinischen Hochschule Hannover, betonte die Bedeutung von Muttermilch als einen protektiven Faktor.
Prof. Dr. Mathias Hornef, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Universitätsklinik Aachen, erklärte, dass zwar die Kindersterblichkeit abgenommen, dafür aber entzündliche und allergische Erkrankungen zugenommen haben.
Prof. Dr. Harald Renz vom Institut für Laboratoriumsmedizin, Pathobiochemie und Molekulare Diagnostik der Universität Marburg erklärte, dass es vor hundert Jahren eine Krankheit wie Asthma noch gar nicht gab.
Prof. Dr. Dorothee Viemann, Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, berichtete, dass dass eine vielfältige Umwelt dem Immunsystem einen Vorteil verschafft.
Prof. Dr. Mechthild Groß, Leiterin der AG Hebammenwissenschaft an der Medizinischen Hochschule Hannover, betonte die Bedeutung von Muttermilch als einen protektiven Faktor.
Der Wissenschaftsjournalist Dr. Joachim Retzbach moderierte den Abend und berichtete, dass der menschliche Körper von etwa 100 Billionen Mikroorganismen besiedelt sei.
In den Nachfragen des Publikums wurden sowohl Neugierde als auch Verunsicherung deutlich.
Auch in persönlichen gesprächen mit den Referenten wurden weitere Fragen ausführlich diskutiert.