Die "einfache Evidenz" der Gefahr

Es ist Krieg, und kaum einer sieht hin. Im fernen Afghanistan sind seit Jahren deutsche Soldaten in Kampfeinsätze verstrickt, und nicht wenige wurden dabei getötet. Aber von einer Friedensbewegung ist hierzulande nichts zu sehen, obwohl dieser Krieg alles andere als populär ist. Anders vor drei Jahrzehnten, als der Slogan "Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin" eine ungeheure Popularität erlangte.

In der letzten Phase des Kalten Krieges erreichte die Friedensbewegung mit Massendemonstrationen ihren Höhepunkt – am 22. Oktober 1983 nahmen in Deutschland mehr als eine Million Menschen daran teil. Grund genug , diesem Ereignis dreißig Jahre später eine Veranstaltung zu widmen. In der Reihe "Forum für Zeitgeschehen" lud die VolkswagenStiftung Historiker und Zeitzeugen ins Schloss Herrenhausen.

Der junge Zeitgeschichtler Holger Nehring von der schottischen Universität Stirling skizzierte die politische Ausgangsposition, die damaligen ideologischen Grundkonflikte und die Formen dieser mit Abstand größten politischen Bewegung in der Geschichte der Bundesrepublik. Anlass war der vom damaligen sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt maßgeblich herbeigeführte "Nato-Doppelbeschluss", der ein Abrüstungsangebot mit einer Drohung verband: Sollte die Sowjetunion ihre neuen Mittelstrecken nicht aus der DDR abziehen, würde der Westen Pershing-Raketen aufstellen – was dann auch geschah.

Nehring betonte, dass in der damaligen Bundesrepublik Fragen der internationalen Ordnung eine "existenzielle Dimension" annahmen. Für die militärische Sicherheit der nach dem Krieg nicht vollsouveränen Bundesrepublik waren die USA zuständig. Deutschland war das potenzielle Schlachtfeld einer atomaren Auseinandersetzung. Das führte in weiten Teilen der Bevölkerung zu großen Ängsten, zumal sich damals die Entspannungspolitik abkühlte und die  Spannungen mit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan sich noch verstärkten.

Dr. Holger Nehring, Universität Stirling, skizzierte die politische Ausgangsposition und die ideologischen Grundkonflikte der Friedensbewegung in der letzten Phase des Kalten Krieges. (Foto: Marcel Wogram für VolkswagenStiftung)

Die Friedensbewegung musste sich, so Nehring, dem Vorwurf aussetzen, ein "trojanisches Pferd" des kommunistischen Ostblocks zu sein und gleichsam die Interessen des Feindes zu vertreten. Zu Unrecht, wie Nehring meint. Er verweist darauf, dass damals vier Millionen Bundesbürger den "Krefelder Appell" zur Abrüstung von 1980 unterzeichnet hätten. Es gab Menschenketten, die von mehr als 400.000 Menschen gebildet wurden. Ihren Erfolg verdanke die Bewegung ihrer Politik, Betroffenheit vor Ort zu erzeugen. Die "abstrakte Materie der Außenpolitik" wurde im Nahraum verhandelt – etwa an Raketenstützpunkte wie im schwäbischen Mutlangen. Nehrings Resümee: Die Friedensbewegung habe einen wichtigen Beitrag für Pluralismus und Zivilität geleistet, zumal sie unterschiedliche Milieus verband.

Das sollte auch das von Marianne Zepp, Historikerin bei der Heinrich-Böll-Stiftung, geleitete Zeitzeugengespräch demonstrieren. Es führte einen aktiven Pazifisten, Volker Nick von der Pressehütte Mutlangen, mit dem Oberstleutnant a.D. Lothar Liebsch zusammen, der zu jenen Offizieren gehörte, die sich in der Initiative "Darmstädter Signal" zusammenschlossen, um die Aufrüstungspolitik zu kritisieren. Nick, der für sein Engagement eine Haftstrafe verbüßen musste, beschrieb, was die damaligen Aktivisten antrieb: eine konkrete Angst, die sich einer genauen Kenntnis der Waffensysteme verdankte - ihrer Nutzlosigkeit im Ernstfall und ihrer zerstörerischen Wirkungen. Als die Waffen trotz starker Proteste stationiert worden waren, sei man bereit gewesen, "zivilen Ungehorsam bis zur Abrüstung" zu üben - so auch der Name einer von ihm mitbegründeten Initiative. Das schloss militante Aktionen wie Sitzblockaden vor Raketenstützpunkten ein.

Zeitzeuge Volker Nick, Pressehütte Mutlangen, der wegen seines Engagements inhaftiert wurde, beschrieb, was die damaligen Aktivisten antrieb. (Foto: Marcel Wogram für VolkswagenStiftung)

Pazifisten waren die Bundeswehroffiziere nicht, die das Nato-Sicherheitskonzept verwarfen. Liebsch verwies darauf, dass damals mehrere tausend Atombomben auf dem Gebiet der Bundesrepublik einsatzbereit waren, allein 200 Atomminen an der deutsch-deutschen Grenzen wären bei einem Angriff der Sowjetunion gezündet worden. Die "Overkill"-Kapazität, die Fähigkeit, die ganze Menschheit durch Atomwaffen auszurotten, betrug damals 12- bis 14-mal (heute sind es "nur" viermal). In seinem Abschlussvortrag benannte der SWR-Fernsehjournalist und Politikwissenschaftler Thomas Leif die Voraussetzungen für den Erfolg dieser Bewegung: Dazu gehörten die "einfache Evidenz" der Gefahr und die daraus erwachsende Angst, die durch Traumata genährt wurde, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte. Hinzu kamen, so Leif, die regionale Vielfalt der etwa 5.000 Initiativen, die offene Konfliktaustragung und die Entwicklung von breitem Gegen-Expertentum. All das fehle den heutigen sozialen Bewegungen von Occupy bis Attac und den Piraten. Die Protestkultur von damals sei einer Empörungskultur gewichen, die praktisch folgenlos bleibe. Er machte dafür neben einer "erfolgreichen Entpolitisierungsstrategie der Bundeskanzlerin" die heutige "Egokultur" verantwortlich, in der allenfalls "Eigennutzbewegungen" wie die gegen Fluglärm Erfolg hätten.

Leif zufolge können heutige Aktivisten die praktischen Lernerfahrungen der damaligen Friedensbewegung kaum nutzen. Anders als die gut erforschte Studentenbewegung sei sie historisch kaum untersucht, und ihre Leistungen würden kaum gewürdigt.

Karl-Ludwig Baader

Auf dem Herrenhäuser Florum fand neben den Vorträgen ein Gespräch mit Zeitzeugen statt (v.l.n.r.: Volker Nick, Dr. Lothar Liebsch und Dr. Marianne Zepp). (Foto: Marcel Wogram für VolkswagenStfitung)