Auf den Wegen der Tugend
von der Universität Göttingen ist seit April 2014 einer der ersten Freigeist-Fellows. Mit seinem Projekt "The Ways of Virtue. The Ethica Section in Wolfenbüttel and the History of Ethics in Early Modern Europe" verfolgt er die Frage, wie der Begriff der Tugend das Denken und Erleben in der frühen Neuzeit prägte. Dabei schreibt er der Tugendethik eine wesentliche Rolle in der europäischen Kulturentwicklung der Zeit zu, die er anhand des Ethica-Bestandes in der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek nachweisen will.
Herr Roick, Sie erforschen den Begriff der Tugend. Sind Sie selbst eigentlich tugendhaft?
Schwer zu sagen. Aber zum Glück muss man nicht immer tugendhaft sein, um über die Tugend zu arbeiten. Außerdem hängt die Antwort auf Ihre Frage natürlich davon ab, welchen Begriff man sich von der Tugend macht.
Was verstehen Sie denn unter dem Begriff der Tugend?
Naja, der Begriff hat eine starke Einengung erfahren. Heute riecht Tugend etwas muffig, man denkt an eine alte Jungfer, die einem erzählen will, was sich gehört und was nicht. Für mich selbst geht es bei der Tugend eher um die grundsätzliche Frage, wie ich mein Leben gestalten will und welche Person ich sein möchte. Das entspricht einem älteren Tugendbegriff, der für die vormoderne Ethik bestimmend ist.
Ja, durchaus. Es geht mir weniger darum, längst verabschiedete Moralvorstellungen aus der Mottenkiste zu holen, als um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, wie ich mein Leben führen will und wie Menschen aus anderen Epochen mit dieser Frage umgegangen sind. Zum Beispiel: Was wollen wir erreichen im Leben? Und wie wollen wir es erreichen?
Ihre Forschung ist am Institut für Kirchengeschichte der Universität Göttingen angedockt. Welche Rolle spielt die religiöse Perspektive?
Die Religion ist sicherlich ein wichtiges Teil im Puzzle, aber nicht das Einzige. Die Kulturgeschichte der Ethik, die ich anstrebe, betrachtet die Ethik weder als rein religiöses noch als rein weltliches, sondern als ein kulturelles Phänomen, das Berührungspunkte mit den verschiedensten Fächern hat – Literatur, Philosophie, Geschichte, und natürlich auch Theologie und Religionswissenschaft.
Die Herzog-August-Bibliothek hat einen unglaublich reichhaltigen Bestand an Büchern. Und anders als in den meisten anderen Bibliotheken ist ihre ursprüngliche Aufstellung aus dem 17. Jahrhundert beibehalten worden. Das macht die Bibliothek zu einer Art Fenster in die frühe Neuzeit. Gerade die Ethica-Sektion gibt uns einen erstaunlichen Ausblick auf die kulturellen Gestaltungsweisen von Ethik und Tugend, denn sie besteht aus viel mehr als philosophischen Traktaten. Offensichtlich vertrat Herzog August, der Bibliotheksgründer, seinerzeit die Ansicht, dass auch ein Roman, eine Komödie oder ein Gedicht moralisch bilden können.
Was sagt diese Zusammensetzung Ihrer Ansicht nach über die Ethik in der frühen Neuzeit aus?
Sehr viel. Um es auf den Punkt zu bringen: Immer wieder wurde mit einigem Staunen bemerkt, dass in der Sektion so viele Werke stehen, die mit Ethik gar nichts zu tun hätten. Ich drehe den Spieß um und frage mich: Warum sehen wir diese Literatur heute eigentlich nicht mehr als aussagekräftig an, wenn es um Probleme der Ethik geht? Meine These lautet daher: Wenn uns die Ethik-Sektion Herzog Augusts etwas zeigt, dann, wie bunt und vielfältig die Rede von der Ethik sein kann, und wie viele Aspekte im Begriff der Tugend zusammenkommen.
Ein Aspekt betrifft das Ziel und die Motivation moralischen Handelns. Was macht uns glücklicher, was treibt uns an: Reichtum und Macht, oder ein zurückgezogenes Leben in Bescheidenheit? Welche Rolle spielt Bildung in unserem Leben? Ist das Streben nach Lust von vorneherein verwerflich? Wie gehe ich mit Schicksalsschlägen um?
Ein anderer Aspekt beschäftigt sich mit Fragen der Moralpsychologie: Welche Rolle spielen Gefühl und Leidenschaft im moralischen Handeln? Kann ich sie sinnvoll in meinem Leben integrieren, oder sollte ich versuchen, sie loszuwerden?
Und weiter: Die "magnificentia" z.B. ist eine Tugend, die den Umgang mit großen Summen von Geld regelt, eine Art Tugend des Sponsoring: Wem soll ich geben, in was investieren, ohne protzig zu wirken? Und all diese Fragen werden nicht nur theoretisch bearbeitet, sondern auch literarisch umgesetzt.
Ihre Untersuchung legt den Schwerpunkt auf die frühe Neuzeit. Könnte man Ihren Begriff der Tugend nicht auch aus heutiger Perspektive untersuchen?
Das geschieht bereits – nicht nur in der Philosophie, in der längst ein Revival der Tugendethik stattgefunden hat, sondern auch in der Psychologie und Anthropologie. Doch ich bin mir sicher, dass diese Fächer viel von einer vertieften historischen Perspektive auf die Tugend, wie ich sie entwickle, profitieren können. Denn eine historische Perspektive auf Tugend und Ethik versucht nicht, die neuen Erkenntnisse in den Humanwissenschaften zu unterhöhlen, sondern zusammen mit ihnen zu einem komplexeren Bild menschlichen Verhaltens und menschlicher Verhaltensregulierung beizutragen. Gerade die Andersartigkeit in der Geschichte kann zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Modellen der Ethik führen.
Nehmen Sie bereits Unterschiede und Gemeinsamkeiten zur heutigen Zeit wahr?
Die Hauptunterschiede betreffen wohl die unterschiedliche Anlage von frühneuzeitlichen und gegenwärtigen Gesellschaften. So sind in der frühen Neuzeit Tugend und Adel eng verbunden, das verträgt sich nicht besonders gut mit dem heutigen Gleichheitsgedanken. Aber es sind auch Anknüpfungspunkte vorhanden: Die neuesten Erkenntnisse in der Psychologie legen z.B. nahe, dass Moral auf verschiedenen kognitiven und emotionalen Ebenen funktioniert – etwas, das ich auch in der Tugendlehre des 17. Jahrhunderts finde.