Dunkelfeld beleuchtet: Wie ein Tabu zum Thema wurde

kein-taeter-werde.de/Charité
Mit Plakatkampagnen wie "lieben sie kinder mehr, als ihnen lieb ist?" wurden gezielt Menschen mit pädophilen Neigungen für ein Präventionsprogramm angesprochen.
Die Dunkelfeld-Studie der Charité Berlin gilt als Pionierarbeit der Präventionsforschung. Mit mutiger Anschubfinanzierung hat die VolkswagenStiftung den Weg für ein internationales Vorzeigeprojekt bereitet.
Als die VolkswagenStiftung im Jahr 2004 die Anfrage der Charité Berlin erreichte, war schnell klar: Hier ging es um ein Projekt, das gesellschaftlich brisant, wissenschaftlich riskant und politisch wie finanziell nicht unumstritten war. Ein Präventionsprogramm für Menschen mit pädophilen Neigungen – noch bevor sie eine Straftat begehen. Bis dahin hatte niemand gewagt, das Dunkelfeld der sexuellen Übergriffe wissenschaftlich und therapeutisch zu erforschen. Die Stiftung entschied sich, diesen Ansatz zu unterstützen.
"Wir sahen das enorme gesellschaftliche Potenzial und waren daher bereit, uns auf dies hochsensible Thema einzulassen - auch wenn die Durchführung des Projekts durchaus mit Risiko verbunden war", erinnert sich Dr. Henrike Hartmann, Leiterin der Förderung. Die VolkswagenStiftung bewilligte für die Anschubfinanzierung rund 500.000 Euro und später nochmals gut 200.000 Euro – und legte durch Finanzierung des Aufbaus der ersten Strukturen an der Charité Berlin den Grundstein für ein Projekt, das heute, 20 Jahre nach Projektbeginn, als "Präventionsprojekt Dunkelfeld" und unter dem Titel "Kein Täter werden" bekannt ist.
Vom Pilotprojekt zum bundesweiten Netzwerk
Die frühen Jahre des Projekts standen im Zeichen der Sichtbarkeit: Mit Plakatkampagnen wie "lieben sie kinder mehr, als ihnen lieb ist?" wurde eine bis dahin unsichtbare Zielgruppe angesprochen. Die Resonanz war gewaltig: Hunderte Männer meldeten sich anonym, um Hilfe zu suchen. "Noch am Tag der Pressekonferenz, an dem wir das Projekt einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt haben, haben wir zahlreiche Anfragen gehabt. Und das ist so geblieben – die ganze Zeit über", sagt Projektleiter Prof. Klaus Michael Beier. Dabei galt die Idee ursprünglich als hochumstritten: "Es gab einen Versuch bei einem anderen großen Förderer, und da war die Auskunft: Da kommt keiner. Das Konzept insgesamt ist infrage gestellt worden", so Beier. "Die Gutachterinnen und Gutachter der VolkswagenStiftung aber sagten: 'Das sollte man mal ausprobieren.' Und das war ein voller Erfolg!"
Die Zahlen zeigten rasch, wie groß das Dunkelfeld ist. "Etwa ein Prozent der männlichen Bevölkerung haben diese Ausrichtung – das sind rund 300.000 Personen in Deutschland", erklärt Beier. Dem stünden im Hellfeld jährlich nur 2.000 bis 3.000 Verurteilungen gegenüber. "Es muss also eine große Gruppe von Personen mit pädophiler Sexualpräferenz geben, die bislang aber nicht straffällig geworden ist – oder bei denen die Justiz das noch nicht erkannt hat."

Bereits während der Auftakt-Pressekonferenz 2005 (hier Prof. Beier im Interview) war die Resonanz gewaltig.
Gleichzeitig fordern Kritiker:innen noch strengere Evaluationsstandards, um etwa Rückfallquoten belastbar zu bestimmen. Für die Stiftung ist genau diese Auseinandersetzung Teil des Prozesses: "Wir wollten nicht nur ein Tabuthema auf die Agenda setzen, sondern auch die Diskussion über wissenschaftliche Herangehensweisen befeuern", sagt Hartmann. Beier betont die gesellschaftliche Dimension: "Jeder Mensch, den wir im Dunkelfeld erreichen bevor er seine Fantasie in Verhalten umsetzt, bedeutet potenziell ein verhindertes Opfer. Die Chance auf eine solche primäre Prävention motiviert uns stark, auch wenn der Nachweis einer verhinderten Opferschaft nur begrenzt bis gar nicht möglich ist.
2008 stieg das Bundesjustizministerium in die Finanzierung ein – ein direkter Beleg dafür, dass die Anschubfinanzierung der Stiftung den entscheidenden Impuls geliefert hatte. Bald darauf wurde das Projekt auf Nutzer von Missbrauchsabbildungen ausgeweitet. Ab 2011 wuchs es zu einem bundesweiten Netzwerk, das inzwischen an zahlreichen Standorten Therapieplätze anbietet. "Ohne die risikobereite Förderung der Stiftung hätten wir dieses Modellprojekt nie aus der Taufe heben können", so Beier. Dr. Henrike Hartmann unterstreicht: "Unsere Aufgabe als Stiftung ist es, Projekte zu ermöglichen, die sonst niemand finanziert. Das Dunkelfeld-Projekt zeigt exemplarisch, wie Anschubförderung nachhaltige Strukturen schaffen kann."
Erkenntnisse und Kontroversen
Wissenschaftlich hat das Projekt eine Reihe von Gewissheiten und Debatten ausgelöst. "Die Zielgruppe ist erreichbar, das heißt: Es gibt sie – und ein Teil dieser Menschen sucht Hilfe. Das hat dieses Projekt nachweisen können", sagt Beier. Zugleich rückt das Programm das Thema konsequent ins Gesundheitssystem: "Wir reden über eine psychische Störung, die seit langem im Klassifikationssystem für Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation enthalten ist. Insofern gehört die Finanzierung auch ins Gesundheitssystem." Doch die Hürden bleiben hoch: "Die massive Stigmatisierung der Betroffenen führt dazu, dass sie sich niemandem mit ihrer sexuellen Problematik anzuvertrauen wagen, weil sie – nicht zu Unrecht – annehmen, dass sie dann sozial zerstört sind."
Therapeutisch setzt das Team auf einen Mix evidenzbasierter Maßnahmen. "Wir können Risikofaktoren so beeinflussen, dass Verhaltenskontrolle möglich ist", sagt Beier und verweist auf die über Jahre erhobenen Verlaufsdaten. Entscheidend sei ein multimodales Vorgehen: "Neben psychotherapeutischen Behandlungsoptionen muss in dem Indikationsgebiet die Möglichkeit vorgehalten werden, auch Medikamente einzusetzen um das sexuelle Verlangen gegebenenfalls zu dämpfen."
Mut zur Lücke
Heute gilt das Präventionsprojekt Dunkelfeld international als Vorbild, auch wenn viele Staaten, wie die USA, Kanada oder Australien durch ihre Anzeigepflicht gegenwärtig nur sehr bedingt ähnliche Programme auflegen können. Diesbezüglich rechnet Prof. Beier aber zukünftig immer stärker mit der Etablierung internetbasierter Behandlungsangebote. Auch gesundheitspolitisch hat das Projekt Maßstäbe gesetzt: "Es ist mittlerweile so weit gediehen, dass unser Projekt vom Gesundheitssystem finanziert wird. Das ist eine extreme Erfolgsstory", sagt Beier. Möglich war das nur gegen Widerstände: "Die Kassen haben sich gesträubt, weil sie grundsätzlich Vorbehalte gegenüber anonymen Behandlungen haben, denn sie sagen: 'Wir haben so ja keine Kontrolle.'"
Dass Mut zur Lücke immer auch Mut zum Risiko bedeutet, zeigt der Blick zurück – und nach vorn. "Es ist der VolkswagenStiftung extrem hoch anzurechnen, dass sie sich damals darauf eingelassen hat", sagt Beier. Zugleich habe sich das Umfeld verändert: "Durch das Internet und die sozialen Medien können sich Proteste viel schneller entwickeln und damit schon Erprobungen von neuen Konzepten verhindern. Wenn wir heute mit der Idee kämen, wären die Chancen für eine Förderung wahrscheinlich schlechter." Für Hartmann und die Stiftung bleibt der Anspruch trotzdem derselbe: "Wir haben mit der Förderung Neuland betreten – und gezeigt, dass genau darin die Aufgabe einer Stiftung liegt." Das Dunkelfeld ist heute ein Stück heller. Und es zeigt: Wissenschaft kann mehr, wenn man ihr die Freiheit gibt, Risiken einzugehen.
Künstliche Intelligenz hat die Recherche für den Text unterstützt.