Frau schaut von historischer Bahnbücke in die Ferne
Story

Happy End oder Apokalypse? 

Autorin: Gudrun Sonnenberg

Narrative können Menschen antreiben oder entmutigen. Davon ist die Transformationsforscherin Karoline Augenstein überzeugt. Sie will herausfinden, wie sich die Erzählungen von Zukunft auf deren Gestaltung auswirken. 

Vorspulen in die Zukunft und selbst über den Ausgang eines Spiels oder einer Geschichte entscheiden: Das gibt es in Videospielen oder in der Kinderliteratur, und da heißt es „Create your own future‟. Karoline Augenstein, Juniorprofessorin für Politikfeldanalyse mit Schwerpunkt Transformationsforschung und Nachhaltigkeit an der Bergischen Universität Wuppertal, bezieht sich auf dieses Konzept, um ihr Forschungsthema zu erklären. „Wir können auch in der Realität die Zukunft gestalten‟, sagt sie und fragt: Wer spult in welcher Geschichte vor? Erzählt man von dystopischen Szenarien wie etwa die Klima-Aktivist:innen von Extinction Rebellion oder der Letzten Generation, um deutlich zu machen, dass wir jetzt handeln müssen? Oder entwirft man die Geschichte von einer handlungsfähigen Menschheit, die das Klimaproblem lösen wird, wie sie manchen politischen Leitbildern zugrunde liegt? Immer vor dem Hintergrund der wichtigen Frage:  Wie kann die Wissenschaft dazu beitragen, dass Narrative entstehen, die Orientierung schaffen und die Menschen zu Veränderungen ermutigen? 

Die Bedeutung von Narrativen entdeckte Augenstein, als sie in ihrer Dissertation die Chancen von E-Mobilität in bestimmten Modellregionen erforschte. Sie stellte fest: "Wenn mehr Akteure beteiligt wurden, gab es mehr und vielschichtigere Erzählungen. Dann ging es nicht nur um Kaufanreize und Ladestationen, sondern auch um Car Sharing; öffentliche Verkehrsmittel und der Umgang mit dem öffentlichen Straßenraum wurden einbezogen. Die Chancen auf eine nachhaltigere Systeminnovation waren dann größer." 

Routinen infrage stellen

Die heute 38-jährige war da schon in der transformativen Wissenschaft verankert, jener Wissenschaft, die sich explizit als Akteurin gesellschaftlicher Transformation begreift. Sie war auf ihr "Feld“ samt des bekannten Protagonisten Uwe Schneidewind im Masterstudiengang "Sustainability Economics and Management" an der Universität Oldenburg aufmerksam geworden. "Die transformative Forschung fasziniert mich, weil wir Methoden, Theorien und Ansätze haben, um Routinen radikal infrage zu stellen und eine Reflexion über Strukturen zu ermöglichen. So wird es möglich, Dinge anders zu machen", sagt sie. 
 

Frau sitzt mit einem Kaffee draußen am Tisch und lächelt in die Kamera

Als ein "andauernder Gesellschaftskongress mit Ambitionen und Wirkung" versteht sich die Utopiastadt im Norden Wuppertals. Karoline Augenstein kommt gerne immer wieder vorbei und freut sich über die Vielfalt der Aktivitäten. 

2011 wechselte sie als Doktorandin nach Wuppertal, um bei Uwe Schneidewind zu promovieren, der inzwischen die Leitung des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie übernommen hatte. Das Institut gilt als Zentrum in Deutschland für die transformative Wissenschaft. Augenstein war erst als Assistentin der Geschäftsführung und dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin dabei, als es 2013 zusammen mit der Bergischen Universität das Zentrum für Transformationsforschung und Nachhaltigkeit (transzent) gründete. Das Zentrum ist eine Art "Hub" für anwendungsorientierte Forschung von Wissenschaftler:innen, die gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Initiativen, Unternehmen, Politik und Verwaltung in Wuppertal in Reallaboren Neues ausprobieren. "Die Herausforderungen der Nachhaltigkeit sind so komplex, dass man die Praxis von Anfang mit einbeziehen muss. Nur so kann die Forschung in die Anwendung kommen", erläutert Augenstein den Wuppertaler Ansatz der Reallaborforschung. In der Stadt fand sie eine bereits etablierte Vernetzung zwischen Wissenschaft und Praxis vor. Zivilgesellschaftliche Initiativen hatten Freiräume in Industriebrachen und leerstehenden Gebäuden entdeckt und setzten sich dafür ein, sie produktiv zu nutzen. "Das waren nahezu ideale Bedingungen, um gemeinsam im Reallabor zu forschen", sagt Augenstein. 

Frau geht von rechts nach links über eine Straße, links und rechts stehen Häuser

Heute setzt man in Wuppertal neben der Schwebebahn auf Fahrradstraßen. Die Neue Friedrichsstraße etwa schafft eine direkte Verbindung von der Nordbahntrasse zur Elberfelder Innenstadt. Auch zu Fuß ist man in Wuppertal gut unterwegs.  

Vielfalt statt Festschreibung

Genau das konnte sie ab 2017 tun, als Juniorprofessurin und Co-Gruppenleiterin einer Nachwuchsgruppe in der sozial-ökologischen Forschung am transzent, sechs Jahre lang und mit Förderung des Bundesforschungsministeriums. Unter dem Projekttitel "Urban Up" untersuchte die Gruppe, wie Initiativen, Unternehmen oder die Stadtverwaltung urbane Veränderungsprozesse anstoßen und zu einer Transformation in Richtung Nachhaltigkeit beitragen können. Augenstein griff die Frage aus ihrer Promotionszeit wieder auf: Was waren die Narrative der Beteiligten? Sie erforschte sie mit ihnen zusammen, denn, so ihre Überzeugung: Für das Entwickeln von Handlungsstrategien in Richtung Nachhaltigkeitstransformation müssen die Akteure sich ihrer eigenen Perspektiven bewusst sein und mit anderen in Austausch kommen.

Ausgangspunkt war ein Projekt in Kooperation mit der Initiative Utopiastadt: in auf deren Flächen aufgestellten Schiffscontainern konnten Bürger:innen, Unternehmer:innen, sozial und kulturell Engagierte bis zu acht Wochen lang Nutzungsideen realisieren. Es entwickelte sich eine wilde Vielfalt. Augenstein organisierte einen Reflexionsprozess: Wer hatte was zu erzählen? "Für die Einen war es die Geschichte, wie ein Ort zum Kaffeetrinken und Tanzen entstehen könnte, für Andere sollte es ein Freiraum ganz ohne Kommerz sein", berichtet sie. Gemeinsam stellte man auch fest: Die herkömmliche Festschreibung von Einkaufszonen, Naherholungsgebieten oder Kulturstätten im Flächennutzungsplan beraubt die Stadtgesellschaft der Vielfalt dazwischen.  

Augenstein selbst lernte einiges über die Reallaborforschung dazu. Zum Beispiel, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure schon in der Konzeption eines Projekts einbezogen werden sollten. Und dass die Praxispartner:innen zwar den von den Forschenden organisierten Reflexionsprozess aus Meetings, Protokollen, Workshops und Schlussfolgerungen schätzten, aber gerne etwas konkretere Ergebnisse gehört hätten. 

Wenn sie ausgehend von ihren bisherigen Erfahrungen die Geschichte der Reallaborforschung in der transformativen Wissenschaft weitererzählen sollte, ginge das so: In zehn oder zwanzig Jahren gibt es Meta-Analysen von Reallaboren mit Erkenntnissen über die Wirkung der Labore, über Gelingensfaktoren und die Rollenverteilung zwischen Wissenschaftler:innen und Bürger:innen. "Auch Studierende können dann zunehmend und an verschiedenen Orten in solchen Lehrprojekten forschen und Kompetenzen für Transformationsprozesse entwickeln", wünscht sie sich. 

Über Disziplinengrenzen hinweg

Schön wäre überdies, wenn inter- und transdiszplinäre Forschung selbstverständlicher wäre, sagt sie. "Meine Themen waren eigentlich immer grenzüberschreitend, aber in der Promotion wurde ich dauernd gefragt, was ich denn jetzt eigentlich sei." Gerade in der transformativen Wissenschaft werde die herkömmliche Einteilung in Disziplinen den Fragestellungen oft nicht gerecht. Sie selbst sehe sich als Sozialwissenschaftlerin in der Transformationsforschung.

Bei einer erneuten "Grenzüberschreitung“ wird Karoline Augenstein nun von der VolkswagenStiftung unterstützt. Sie fördert ihr aktuelles Projekt mit dem Titel "Narrative Futures: Entwicklung eines inter- und transdisziplinären Ansatzes für die Konstruktion von Zukünften und die Gestaltung von Transformationsprozessen durch Narrative“ – als eines der ersten Pioniervorhaben im Profilbereich “Gesellschaftliche Transformationen“. Das Vorhaben ist am transzent angesiedelt und vereint Ansätze aus Transformationsforschung, Politikwissenschaft, Literaturwissenschaft und Zukunftsforschung. Es wird auch wieder ein Reallabor stattfinden. "Ich will herausfinden, wie ein Narrativ aussehen muss, das die Offenheit von Zukunft deutlich macht. Wie kann es helfen, Dinge infrage zu stellen und Handlungsimpulse auszulösen", erklärt Augenstein. 

Frau sieht von Hochbahnsteig in die Ferne

Wuppertal innovativ: Mit einer Schwebebahn als Personennahverkehrssystem war 1901 der Anfang gemacht, sie ist bis heute in Benutzung. Hier Station Kluse. 

Die Offenheit der Zukunft: Die trifft auch auf ihre eigene Situation zu. Was kommt nach der Juniorprofessur? Wird sie weiterhin passende Ausschreibungen finden, können die Strukturen der Zusammenarbeit mit den außerwissenschaftlichen Partnern weiter ausgebaut und erhalten werden? Leider ist es auf dieser Ebene mit dem Vorspulen der Geschichte so eine Sache. Denn das deutsche Wissenschaftssystem erzählt seine eigenen Geschichten und macht es allzu oft spannend.

Wir hoffen auch hier auf ein Happy End.  

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Impulse Ausgabe 2023: "Wissenschaft leben"

Diesen Beitrag finden Sie auch in der aktuellen Ausgabe unseres Stiftungsmagazins "Impulse". Was die Menschen in diesem Heft verbindet: Die Leidenschaft für ihren Beruf und ihre Themen!

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