Die dunklen Seiten von 'Open Science'
Geht das Streben nach Transparenz in der Wissenschaft zu weit? Der deutsche Wissenschaftsexperte Stefan Hornbostel sagt, dass Transparenz in der Wissenschaft prinzipiell förderlich ist – allerdings kann zu viel davon kontraproduktiv sein.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Open-Science-Bewegung an Stärke gewonnen. Vereinfacht gesagt fordert sie mehr Transparenz vonseiten der Forschenden. Die Befürworterinnen und Befürworter von mehr Transparenz in der Wissenschaft argumentieren, dass Offenheit darüber, wer Wissenschaft betreibt, woher die Finanzierung kommt, wie die gewonnenen Daten aussehen und wie sie verwendet werden, das Vertrauen der Öffentlichkeit in den wissenschaftlichen Prozess und seine Erkenntnisse stärkt. Die Konsequenzen, die politische Entscheidungsträgerinnen und -träger und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern daraus zogen, haben einen eindeutigen Wandel herbeigeführt: Heute gibt es nicht nur Rankings von Forschungseinrichtungen, sondern die Institutionen selbst werden überwacht. Darüber hinaus fordern immer mehr Geldgeber, dass Datensätze öffentlich zugänglich gemacht werden. Und einige wissenschaftliche Fachmagazine haben anonyme Peer-review-Prozesse komplett abgeschafft.
Dennoch: Wenn Meinungsforscher die Deutschen befragen, ob sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vertrauen oder nicht, sind die Meinungen gespalten – und zwar zu etwa gleichen Teilen. Das Vertrauen in die Wissenschaft ist in den letzten 20 Jahren zwar nicht gesunken, aber es ist auch immens schwer, überhaupt das Vertrauen der Hälfte der Bevölkerung zu gewinnen – trotz verstärkter Transparenzbemühungen. "Nur 50 Prozent der Bevölkerung gibt an, dass sie der Wissenschaft vertraut", bedauert Stefan Hornbostel, Leiter des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). "Für ein System, das so kostspielig ist, würden man größere Zahlen erwarten."1
Vielleicht, so Hornbostel, gingen die Bemühungen um Transparenz inzwischen einfach zu weit. Denn lange bevor "Open Science" zum Schlagwort wurde, war die Wissenschaft bereits von Transparenz geprägt: Kritik, Skepsis und prüfende Blicke sind fest im System verankert – vom Peer-review-Prozess bis hin zur wissenschaftlichen Methode selbst. Allerdings, mahnt Hornbostel, habe der steigende Drang nach Transparenz in der Wissenschaft auch negative Konsequenzen, die bislang weitgehend ignoriert oder unberücksichtigt gelassen wurden. Anstrengungen für mehr Transparenz können tatsächlich negative Effekte nach sich ziehen, nämlich wenn sie Erwartungen wecken und diese unerfüllt lassen. "Forderungen nach Transparenz führen zu immer neuen Forderungen nach noch mehr Transparenz – wie in einer Art Endlosschleife", sagt Hornbostel. "Transparenz ist zwar notwendig, die Aufmerksamkeit für ihre Schattenseite wächst jedoch nicht mit der gleichen Geschwindigkeit."
Als Negativ-Beispiel nennt Hornbostel Veränderungen im Peer-Review-Prozess: Die Namen von Gutachterinnen und Gutachtern offenzulegen, solle die Transparenz des Verfahrens erhöhen. Angesichts der engen Verknüpfungen innerhalb vieler Wissenschaftsgemeinden könne diese besondere Art der Transparenz das Gegenteil auslösen: "Gutachterinnen und Gutachter, deren Namen bekannt sind, sind vielleicht nicht so ehrlich bei der Kritik an der Arbeit ihrer eignen Kolleginnen und Kollegen", meint Hornbostel. In einer aktuellen Umfrage beispielsweise gaben über 40 Prozent der deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Gutachtererfahrung an, dass die Qualität von Gutachten in den letzten Jahren gesunken ist.2
Transparenz geht darüber hinaus auch mit finanziellen Kosten einher: Wenn Forscherinnen und Forscher ihre Rohdaten zugänglich machen müssen, müssen sie Geld dafür aufwenden, öffentlich erreichbar Datenbanken zu erstellen und Datensätze von solchen Inhalten zu bereinigen, die die Privatsphäre von Menschen betreffen könnten. Für einige Forschungsgebiete – z. B. soziologische Studien, die auf persönlichen Befragungen basieren, oder große epidemiologische Studien, die medizinische Aufzeichnungen verwenden – könnte ein angemessener Schutz personenbezogener Daten unmöglich sein. "Das Speichern von Daten ist zeitaufwändig und teuer", sagt Hornbostel. "Wir werden daher auch darüber nachdenken müssen, welche Daten für eine Langzeitarchivierung wirklich relevant sind und wie wir das Vergessen – also das Löschen von Daten – organisieren wollen."
Auch ist Hornbostel besorgt, dass viele der Maßstäbe, anhand derer Forschungsinstitutionen Rechenschaft ablegen sollen, die Wissenschaft weniger effizient und produktiv machen. Sie reichen von Exzellenzrankings auf der Basis von Publikationen in High-impact-Journalen bis hin zu dem Druck, sich auf "nützliche" Forschungsgebiete zu fokussieren. "Brauchen wir also weniger Transparenz in der Wissenschaft? Die Antwort ist eindeutig nein", sagt Hornbostel. "Aber wir müssen ein Gleichgewicht finden. Wir brauchen ein System der gegenseitigen Kontrolle, aber wir müssen auch die Überregulierung verhindern, damit die akademische Freiheit nicht in Gefahr gerät."
Selbst die Open-Access-Bewegung, die von Autoren ein Honorar verlangt, damit ihre Arbeit veröffentlicht und kostenlos gelesen werden kann, zog ungeahnte Folgen nach sich: Inzwischen kommt auf jedes seriöse Publikationsorgan wie PLOS-One (die internationale Online-Fachzeitschrift der Public Library of Science) Dutzende von zwielichtigen Pay-to-publish-Journalen ohne Peer-review-Verfahren. Derlei Publikationen von sog. Raubverlagen haben die Unsicherheit unter jungen Forscherinnen und Forschern erhöht, für die Veröffentlichungen ein wichtiger Bestandteil ihres Karrierewegs sind. "Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen jetzt ganz genau hinschauen, ob es sich um eine anerkannte und seriöse Publikation handelt, oder nicht – und Forschungseinrichtungen sollten dabei Hilfestellung leisten", meint Hornbostel.
Auch die Wissenschaftskommunikation spielt eine Rolle. Denn die Forscherinnen und Forscher stehen unter dem Druck, ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit zu kommunizieren, die wiederum daran interessiert ist, wie ihre Steuergelder in der Forschung eingesetzt werden. Aber Schlagzeilen und Pressemitteilungen vermögen nur selten, Komplexitäten aber auch Ungewissheiten im wissenschaftlichen Prozess zu vermitteln. Man denke nur an die hartnäckige Anti-Impf-Bewegung: Über die Ergebnisse einer mangelhaft konzipierten Studie, die eilig wieder zurückgezogen wurde, wurde ausführlich berichtet, bevor die wissenschaftliche Gemeinschaft die Gelegenheit dazu hatte, sie zu hinterfragen oder sie zu erwidern. Und obwohl die Studie gänzlich diskreditiert wurde, ist der Schaden für die öffentliche Gesundheit dauerhaft und anscheinend unumkehrbar.
Zudem könnte ein öffentlicher Zugang zu Daten ein Sicherheitsrisiko darstellen: In einer Welt, in der Techniken wie CRISPR die genetische Manipulation von Organismen nur mit einer Grundausstattung ermöglichen, kann das Veröffentlichen von Laborexperimenten und -ergebnissen zwar zur Transparenz beitragen, dürfte aber wohl nicht im öffentlichen Interesse liegen.
Für Stefan Hornbostel ist Transparenz wertvoll. Aber "offene Wissenschaft ist nicht die Lösung für alle Probleme, die wir haben", erklärt er. "Man muss unterscheiden zwischen den Formen offener Wissenschaft, die hilfreich sind, und denen, die mehr Probleme verursachen, als sie lösen."
1 Auch die Bevölkerung ist im Grundsatz mehrheitlich positiv eingestellt: Nach dem Wissenschaftsbarometer 2017 haben mit 50 Prozent der Bevölkerung nur eine knappe Mehrheit "eher Vertrauen" in die Wissenschaft. Aber nur 12 Prozent geben an, sie hätten "eher kein" oder "gar kein Vertrauen". (Quelle: Wissenschaftsrat; Berlin, 20. Oktober 2017)
2 12 % der Befragten mit Gutachtererfahrung geben an, dass die Gutachtenqualität sich deutlich verschlechtert hat; 32 % geben an, dass sich die Gutachtenqualität eher verschlechtert hat (Quelle: Neufeld, J., & Johann, D. (2016): Wissenschaftlerbefragung 2016 - Variablenbericht - Häufigkeitsauszählungen. Hannover/Berlin: DZHW.)
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