Auf dem Weg zum idealen Wissenschaftsdiskurs
Corona wirbelt durch die Wissenschaft. Forscher diskutieren ihre Ideen offener und teilen Daten und Ergebnisse früher. Das ist Open Science. Macht Offenheit die Forschung besser? Ein Gespräch mit Ulrich Dirnagl.
Herr Dirnagl, seit über einem halben Jahr wütet das Corona-Virus. Die Welt zählt bislang rund 800.000 Tote, zahllose Existenzen sind zerstört, und die Wissenschaft arbeitet im Notbetrieb. Sie sehen in dem Desaster die Geburtsstunde einer neuen Wissenschaftskultur. Das müssen Sie erklären.
Ulrich Dirnagl: So radikal würde ich es doch nicht sagen, aber ja: In der Corona-Forschung arbeiten Fachwissenschaftler offener und kollaborativer, um schneller voran zu kommen. Open Science gab es aber auch schon vor COVID-19. Die Pandemie gibt der Arbeitsweise einen Schub. Das ganze System wird deshalb aber nicht gestürzt. Das ist klar.
Wieso?
In der Pandemie haben sich die grundsätzlichen Bedingungen für die Wissenschaft nicht geändert. Die Anreizsysteme sind nicht auf ein offenes, transparentes Arbeiten ausgelegt. Es gibt kaum Förderprogramme für Open Science. Forschende haben keinen Vorteil, wenn sie ihre Forschungsideen und Daten teilen und ihre Ergebnisse als Preprint publizieren. Entscheidend für eine Karriere in der Wissenschaft sind Drittmittel und Publikationen in renommierten Journalen.
Gehen Sie an der Charité anders vor?
Wir fangen jedenfalls damit an, weitere Kriterien für die Bewertung von Forschungsleistung einzuführen. Wir haben einen Algorithmus entwickelt, der unter allen rund 4000 Charité-Forschern die identifiziert, die ihre Daten teilen. Sie erhalten dann automatisch einen Zuschlag zwischen 1000 und 2000 Euro, den sie für ihre Forschung verwenden können. Wer sich bei uns bewirbt, wird im schriftlichen Bewerbungsformular aufgefordert bisherige Open-Science-Aktivitäten kurz zu beschreiben. Daneben entsenden wir jemanden in Berufungskommissionen, um Bewerber gezielt nach ihren Open-Science-Konzepten zu befragen.
Und wer an der Stelle blank ist, wird abgelehnt?
Sicher nicht, natürlich kommt es in erster Linie auf die wissenschaftliche Klasse an. Ein ordentliches Open-Science-Konzept ist nur ein Aspekt von vielen. Was nicht heißt, dass es in Zweifelsfällen nicht den Ausschlag geben kann.
Open Science schlachtet eine heilige Kuh der Wissenschaft: das Peer Review-Verfahren, bei dem handverlesene Experten die Spreu vom Weizen trennen. Bei Open Science dürfen alle Gutachter sein. Wo liegt der Vorteil?
Den Peer Review-Prozess, den wir heute kennen, gibt es seit den 60-er Jahren. Damals gab es viel weniger Arbeiten, die Wissenschaft war nicht so spezialisiert wie heute. Die Wahrscheinlichkeit, mit ein paar Gutachtern eine tragfähige Beurteilung zu bekommen, war höher. Zu glauben, ein paar Superexperten könnten in der heutigen komplexen Wissenschaft den Qualitätscheck leisten, ist naiv. Selbst wenn Peer Review zweifelhafte Arbeiten identifiziert, es verhindert nicht, dass sie nicht doch irgendwann irgendwo publiziert werden. Außerdem dauert Peer Review viel zu lange. Forscher denken so bisweilen Jahre in die falsche Richtung. Bei Open Science ist die Community von Anfang an eingebunden, sie diskutiert konstruktiv über Forschungsideen, Forschungspläne und das Ergebnis. Für mich ist das das Ideal eines wissenschaftlichen Diskurses!
Wenn denn alle mitmachen und sich überhaupt die Zeit dafür nehmen können – neben ihrer eigenen Forschung und Lehre.
Ja, da haben Sie einen Punkt. Er berührt aber ein ganz anderes Problem. Nämlich, dass wir uns mit unserer massenhaften Publiziererei und Antragstellerei komplett verrannt haben. Das ist alles viel zu viel! Wir brauchen weniger, dafür deutlich bessere Arbeiten.
Ein Vorwurf gegen Peer Review lautet, sie fördere Mainstreamforschung. Lässt sich Neuland im Schwarm leichter erobern?
Ich denke schon. Wenn eine Idee mit der Begründung abgetan würde, dass es so etwas noch nie gegeben hätte, dann würde das im Schwarm bestimmt von jemanden aufgegriffen werden. Der Schwarm besteht aus sehr vielen, ganz unterschiedlichen Experten – und eben nicht nur alten, weißen Männern wie ich einer bin. Einfluss hat, wer Fachkenntnis besitzt. Das ist entscheidend. Trolle oder Laien können sich beteiligen, sie werden den Diskurs aber niemals beeinflussen oder gar dominieren.
Zum Stichwort Diskurs: Verändert sich da gerade mehr?
Ich finde schon. Der offenere Austausch erhöht gleichzeitig das Wissenschaftsverständnis. Seit Corona tauchen Begriffe wie "Preprint" oder "Peer Review" in den Medien auf und werden erläutert. Das ist eine Volksaufklärungskampagne in Sachen "Wie geht Wissenschaft".
Und diskutiert wird auch auf Twitter. Beschleunigt Twitter Open Science?
Absolut.
Was hat die Gesellschaft von Open Science?
Die Offenheit wird sicher zu einer effizienteren Wissenschaft führen, weil Irrtümer schneller erkannt und öffentlich gemacht werden. Das ist ein Vorteil. Aber ich muss zugeben: Es gibt keine Belege dafür, dass Wissenschaft mit Open Science besser wird. Forschungsmüll und Ergebnisse, die nicht robust sind, wird Open Science nicht verhindern. Die Behauptung einer besseren Wissenschaft durch Open Science ist plausibel, aber nicht belegbar. Es gibt kein Land, in dem Open Science die Richtschur für wissenschaftliches Arbeiten ist. Alle Wissenschaftsnationen halten an der bisherigen Arbeitskultur fest - ich denke, es ist Zeit, das zu ändern.
Sie führen Open Science gerade an der Charité ein. Was kostet das?
Aktuell haben wir 2,5 Millionen Euro im Jahr für eine Vielzahl von Maßnahmen zur Verfügung, welche unsere Wissenschaft verbessern helfen. Dazu gehört auch Open Science. Das Geld stammt größtenteils vom Bund, der das Berlin Institute of Health der Charité und des Max Delbrück Centrum zu 90 Prozent finanziert. Dazu kommen Fördergelder vom britischen Wellcome Trust und der VolkswagenStiftung sowie anderen Drittmittelgebern. Die Umstellung auf Open Science kostet sehr viel Geld. Allein die Infrastruktur für die Datenspeicherung ist teuer. Es braucht Anreizsysteme und Trainings für Forschende, um Daten so aufzubereiten, dass sie nutzbar sind. Wir entwickeln Instrumente und Methoden dafür. Diese können andere nutzen. Wir sind also eine Art Schneepflug, hinter uns kann man leichter laufen. Trotzdem kostet Open Science Zeit und Geld. Universitäten könnten sich das derzeit gar nicht leisten. Ganz wichtig für Open Science ist – neben den Ressourcen –, dass die Leitung einer Einrichtung die Wissenschaftler unterstützt und deren Bemühungen anerkennt. Und da gibt es dann noch ein paar Idiosynkrasien des deutschen Systems, mit denen man umgehen muss.
Was meinen Sie?
Die grundgesetzlich verbriefte Forschungsfreiheit, zum Beispiel. Sie ist ein wunderbares Gut und ein wichtiges Bollwerk gegen die Einmischung in die Wissenschaft von außen. Gleichzeitig wird sie aber auch als Bollwerk missbraucht, in der Wissenschaft etwas zu ändern, wenn etwas schiefläuft. Wir hören öfter, dass Open Science die Forschungsfreiheit gefährde. Wir sehen das nicht so. Wir greifen nie in die Forschung selbst ein. Trotzdem kommt das Thema an Unis immer wieder auf. Forschungsförderer haben da ein einfacheres Leben.
Inwiefern?
Sie können die Regeln festlegen, nach denen gespielt wird und Antragsstellern sagen: Wenn dir das nicht passt, bist du hier falsch. Der Wellcome Trust erlaubt Antragstellern zum Beispiel, in Anträgen Preprints zu zitieren. Man könnte auch spezielle Förderlinien für Projekte schaffen, die die Replikation eines Schlüsselbefunds vorsehen. Die Idee wurde mal in Nature als Voraussetzung für eine Veröffentlichung diskutiert, dort aber dann nicht umgesetzt. Dabei hätte das bestimmt funktioniert, weil manche für ein Nature-Paper ja ihre Großmutter umbringen würden. Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft könnte die Replikations-Auflage sofort einführen und so für robustere Erkenntnisse sorgen. Es könnte Zusatzgeld für die Nutzung vorhandener Daten geben. Zudem könnte die Publikation von Nullresultaten eine Bedingung für die Förderung werden. Also, es gibt tausend Möglichkeiten für öffentliche und private Wissenschaftsförderer, um Open Science zu fördern. Sie müssen es nur tun.