"Keine Gerechtigkeit ohne Liebe"

Für den amerikanischen Bürgerrechtler Cornel West gibt es kein philosophisches Denken ohne Empathie mit den Schwachen. Der Philosoph eröffnet Hannovers 4. Festival der Philosophie.

"Einer der meistprofiliertesten Intellektuellen Amerikas"

Zunächst stellte Miriam Strube, Professorin für Amerikanistik an der Universität Paderborn, Cornel West, seinen Werdegang und sein Denken vor. Der 1953 geborene, in einem afroamerikanisch bestimmten Milieu in Tulsa, Oklahoma, aufgewachsene West lehrte in seiner brillanten akademischen Karriere in Yale, Paris und Princeton und unterrichtet nun "Philosophy and Christian Practice"  in dem im New Yorker Stadtteil Harlem gelegenen  Union Theological Seminary. West, so unterstreicht Strube, betone immer wieder die Bedeutung seiner Familie für seine Entwicklung, vor allem die Erfahrung einer unbedingten Unterstützung, die ihm sowohl Selbstbewusstsein wie Selbstironie ermöglichte. Zwei seiner mehr als 20 Bücher seien Bestseller geworden. In "Race matters" kritsierte der den Umgang des weißen Amerika mit dem Rassismus. Während die Liberalen sich nur auf ökononomische Hilfen konzentrierten, kritisierten die Konservativen die Schwarzen aus moralischer Perspektive, ohne die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen zu berücksichtigen. In "Democracy matters" untersuchte er den in den USA herrschenden Marktliberalismus und Militarismus und die Angriffe auf die Bürgerfreiheiten. Zudem sei er im Kino ("Matrix") aufgetreten und sei auch als "Spoken-Words"-Musiker aktiv. West lehre zudem in Gefängnissen und nehme an Demonstrationen teil. Strube betont Wests Integrität: Er tue auch, was er predige.

Miriam Strube, Professorin für Amerikanistik an der Universität Paderborn, stellt den Werdegang und das Denken Cornel Wests vor. (c) Volker Crone für VolkswagenStiftung

"Ich spreche überall"

Cornel Wests

Auftritt ignoriert mit seinem an der Predigertradition des schwarzen Amerika geschulten Vortragsstil die üblichen akademischen Gepflogenheiten. Mit seiner selbstgewissen Lässigkeit und Zugewandtheit (er spricht von Menschen als "Brüdern und Schwestern") konnte er das heftig applaudierende Publikum für sich einnehmen. West präsentierte sich mit seinen Zitaten und Hinweisen aber auch als exzellenter Kenner der philosophischen, literarischen und musikalischen Tradition. Wie nur wenige Philosophen weiß er sich selbstironisch ungezwungen, aber ohne Anbiederung einem nichtakademischen Publikum zu nähern. Es irritiert ihn nicht, wie West in seinem frei formulierten assoziativen Vortrag ironisch eingesteht, gerade in einem Schloss von Gerechtigkeit zu sprechen. "Als Demokrat spreche ich überall." Zunächst erinnerte er an den bedeutenden amerikanischen Theologen und Philosophen  Reinhold Niebuhr, der einmal gesagt habe, dass Gerechtigkeit, die nur Gerechtigkeit sei, weniger als Gerechtigkeit sei – ohne Liebe sei Justice unmöglich. Für seine Philosophie spielen, betont West, moralische Begriffe wie Integrität, Ehrlichkeit, Anständigkeit und Tugendhaftigkeit eine zentrale Rolle.

Cornel West trägt seinen Vortrag wie ein Prediger vor. (c) Volker Crone für VolkswagenStiftung

"Welche Person möchte ich sein?

Jeder Mensch müsse sich der Frage stellen, was es heiße, "human" zu sein. Wir lebten alle in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum und müssen eine Wahl treffen: Welche Person möchte ich sein? Wir müssen dies tun, so West, im Bewusstsein von Dunkelheit und Tod, von Sorgen und Ängsten und dürfen diese dunklen Seiten der Existenz nicht verdrängen. Das gelte nicht nur für Individuen, sondern auch für Gesellschaften wie die amerikanische. Sie verdränge, dass die Sklaverei zu ihrer Demokratie gehöre. West sprach ironisch von der amerikanischen „Peter-Pan-Mentalität“. Es sei da viel von Wachstum die Rede, dabei komme es darauf an, erwachsen zu werden. Zum Leben gehört die Erfahrung von Kummer und Angst. Philosophie müsse sich mit diesem existenziellen „funk“, den Samuel Beckett „mess“ genannt habe, auseinandersetzen. Philosophieren heiße, sterben zu lernen.

"Ich habe keine Minute für Hass"

Für West gibt es keine Wahrheit, wenn die Philosophie die Nöte der Armen und Unterdrückten ignoriere, ja, es bedarf der Empathie mit den Leidenden.  Er erinnerte dabei auch an Walter Benjamins Bild vom "Engel der Geschichte", der mit dem Rücken zur Zukunft, die Opfer der historischen Katastrophen vor Augen hat. West zufolge müssen wir diese Generationen von Unterdrückten im Blick behalten, sie verpflichten uns wie alle Toten. West, der sich emphatisch als Christ zu erkennen gibt und sich zur Feindesliebe bekennt, zitiert die Mutter, deren Sohn Opfer des Rassismus wurde: Ich habe keine Minute für den Hass. Er fordert von den Aktivisten gerade auch Selbstkritik und die Aufgabe von Dogmen, auch wenn es wehtue. West verweist immer wieder auf die Bedeutung emotionaler Ressourcen. Ohne die Erfahrung von Liebe könne man nicht Widerstand leisten.
 

"Ich bin kein Optimist"

Eine der Kraftquellen der schwarzen Amerikaner war die Musik, ohne die eine kulturelle Selbstverständigung der Sklaven nicht möglich gewesen sei, unterstreicht West. Im Blues drückten sich die Erfahrungen mit der Katastrophe aus. Nein, er sei kein Optimist, aber als Bluesman sei er Gefangener der Hoffnung. In der abschließenden Diskussion ging er nochmal auf die Bedeutung der Bildung ein, die er vom Marktdenken bedroht sieht. Man werde erzogen, "smart" zu sein, für Menschen sei es aber wichtiger, weise zu werden. Smart sei etwas für Smartphones.

"Obama interessiert sich nicht für die einfachen Arbeiter"

West machte auch deutlich, wie tief seine Enttäuschung über Obama ist. Er sieht auch nur wenige politische Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten. Schon unter der vorigen liberalen Regierung unter Clinton habe er die Deregulierung des Finanzsektors und den Abbau von Sozialleistungen kritisiert. Heute sei die Macht der Banken sogar noch stärker geworden. Obama beuge sich dem Druck der Wallstreet und kümmere sich nicht um die einfachen Arbeiter. Mit seiner heftigen Kritik an Obamas Drohnenkrieg als Kriegsverbrechen habe er sich die Kritik der schwarzen Gemeinschaft zugezogen. West legt dagegen ausdrücklich Wert darauf, moralisch konsistent zu urteilen. Entmutigen lässt er sich offensichtlich nicht. Es brauche eben die Tugend eines Langstreckenläufers, betont West. Dem deutschen Publikum machte er Mut zu mehr Emotionalität und verwies es auf  Gewährsleute aus ihrer eigenen Kultur: Beethoven, Schiller und Wieland. Für ihn kann Hitlers Schatten die Erinnerung an sie nicht verdunkeln.
Karl-Ludwig Baader

Die Besucher des Festivals der Philosophie nutzten die Möglichkeit, mit dem Philosophen zu diskutieren. (c) Volker Crone für VolkswagenStiftung