
Es fühlte sich fast an wie früher, nur mit viel mehr Platz im Saal: Zum ersten Mal in diesem Jahr trafen sich die Gäste des Herrenhausen Late wieder vor Ort im Festsaal des Schlosses. Bei Cocktails und Knabberkram folgten sie zum Thema "One Health ‒ an der Schnittstelle zwischen Mensch und Tier" den Vorträgen zweier Wissenschaftlerinnen aus Hannover, die über ihre Forschung zu neu auftretenden Viren berichteten.
Auch ihr sei es eine besondere Freude, mal wieder vor realem Publikum zu sprechen, sagte eingangs Prof. Dr. Asisa Volz. Die Tierärztin entwickelt am Institut für Virologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) neue Impfstoffe gegen Zoonosen. Von einer Zoonose spricht man, wenn ein Krankheitserreger von einem tierischen Wirt auf den Menschen übergeht, also die Speziesbarriere überwindet. "Neu auftretende zoonotische Erreger haben immer das Potential, Krankheiten auszulösen und sich weltweit zu verbreiten", sagte Volz. Als Beispiele nannte sie das Ebolavirus, das West Nile Virus und auch immer wieder auftretenden "spill-over events" neuer Grippeviren, die von Geflügelarten auf den Menschen "überschwappen". "Etwa 70 Prozent aller im Menschen kursierenden Viren stammen aus Tieren", ergänzte die Virologin und ebenfalls TiHo-Professorin Dr. Gisa Gerold: "Im Prinzip kommen alle Infektionserreger aus dem Tier - viele haben sich gemeinsam mit der Spezies Mensch im Laufe der Evolution entwickelt."
Videomitschnitt der Veranstaltung
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Ein Virus gegen Viren: Vektorimpfungen
Volz und ihre Kolleg:innen an der TiHo benutzen als Grundlage für die Impfstoffe, die sie entwickeln, ein altbekanntes Virus: das modifizierte Vaccinia-Ankara Virus (MVA). "Das ursprüngliche Pockenvirus [Vaccinia-Virus, Anm. d. Autorin] ist ja sowas wie der Prototyp aller Impfstoffe", sagte Volz. "Er wurde eingesetzt, um bei Menschen die Pocken auszurotten.” Anfang der 1990er Jahre haben Münchner Forschende das Virus so verändert, dass es sich in Menschen nicht mehr vermehren kann. "Dabei hat das Virus einen einzigartigen Phänotyp entwickelt", erklärte Volz: "Es hat seine krankmachenden Eigenschaften verloren, verfügt aber über eine voll funktionsfähige Kaskade viraler Genexpression." Das modifizierte Pockenvirus kann also Zellen dazu bringen, sämtliche Proteine herzustellen, für die es die Erbinformation trägt.

Volz und ihre Mitarbeitenden haben MVA als Technologieplattform etabliert. Sie können in dessen Erbinformation die Bauanleitung für beliebige Merkmale neu auftretender Erreger einbauen. So können sie MVA als Impfstoffvektor sehr schnell an neue Erreger anpassen. Die Zellen der Geimpften produzieren das Protein, auf das Volz und Kolleg:innen das Vektorvirus programmiert haben. Das Immunsystem lernt anhand dieses Merkmals, einen neuen Erreger abzuwehren. Auch gegen SARS-CoV 2 haben Volz und ihre Mitforschenden auf diese Art einen Impfstoff entwickelt. "Unsere Ergebnisse unterstreichen die Sicherheit, Immunogenität und auch Wirksamkeit unserer neuen Impfstoffkandidaten", sagte Volz. Die derzeitige Antigenoptimierung und Dosierungsanpassung halte sie für eine gute Übung darin, im Fall von Virusvarianten einen Impfstoff schnell anzupassen.
Schutz für Mensch und Tier
Interessanterweise können mit MVA-basierten Impfstoffen nicht nur Menschen immunisiert werden. Seit 2012 kursiert das Middle Eastern Respiratory Syndrome Virus (MERS), dem Kamele als Reservoir dienen. Immer wieder übertragen sie es auf Menschen. "Das MERS-Coronavirus ist ein ideales Beispiel für ein zoonotisches Pathogen", sagte Volz. "Wir wollten ‒ ganz im Sinne des One Health Konzeptes ‒ einen Impfstoff entwickeln, der sowohl für die Anwendung im Menschen wie auch im Tier geeignet ist." Sie und ihre Mitarbeitenden programmierten den MVA-Vektor mit der Sequenz für das Spike-Protein, ein prominentes Oberflächenmerkmal des MERS-Coronavirus.

Ein bisschen bang sei ihr schon gewesen, erzählt die Tierärztin, bevor sie das erste Mal tatsächlich einem Kamel die Spritze gegeben habe. "Aber, wie Sie sehen: Dem Kamel geht es gut, mir geht es auch gut", freute sie sich mit dem Publikum über den Erfolg ihres Einsatzes. Denn die Kamele, die sie mit dem neuen Wirkstoff impfte, zeigten bei einer Infektion mit MERS keine Symptome und schieden deutlich weniger infektiöses Virus aus als ungeimpfte. Somit verringert die Impfung der Tiere das Risiko, dass sie das Virus auf Menschen übertragen. "Wir müssen lernen, im Sinne des One Health Konzeptes nicht mehr wie bisher zwischen Tieren und Menschen zu unterscheiden", hob Prof. Michael Manns hervor. Der Präsident der Medizinischen Hochschule Hannover saß im Publikum. "Wir sind eine Gruppe von Tieren, Viren sehen da keine Grenze."
"Tiergesundheit und Menschengesundheit hängen eng zusammen", sagte auch Gisa Gerold. Viele Erkrankungen beim Mensch seien aufgetreten, weil der Mensch direkt oder indirekt in Ökosysteme eingegriffen habe. Die globale Klimaerwärmung etwa sei ein Beschleuniger für Epidemien, deren Erreger durch Arthropoden wie Mücken oder Zecken übertragen würden. Entwaldung und Landnutzung entzögen Wildtieren den Lebensraum, förderten den Kontakt zu Nutztieren und begünstigten dadurch Spill-over Events ‒ die Infektion über Speziesgrenzen hinweg. Gerold beschrieb vier Säulen der Pandemievorsorge und des Pandemiemanagements: Die Überwachung potentieller und die Diagnostik neu aufgetretener zoonotischer Krankheitserreger, nicht-pharmazeutische Interventionen (NPIs) wie Schutzausrüstung und Abstandsregeln ("effektiv aber unbeliebt") sowie Impfstoffe und Medikamente.
Grundlagenforschung ermöglicht Fortschritt
Für alle vier Säulen bilde die Grundlagenforschung die Basis, betonte die Virologin. Das molekulare Verständnis der Interaktion von Virus und menschlicher Zelle etwa ermögliche medizinischen Fortschritt. "Insofern war SARS-CoV-2 ein Glücksfall", sagte sie. "Aufgrund der verfügbaren genetischen Information konnten wir Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen schon früh den Rezeptor für das Virus feststellen und im Modell die Bindung an die Zelle darstellen." Dank dieses Wissens könnten Wissenschaftler:innen die winzigen Zellpiraten bekämpfen. "Wenn wir den Rezeptor kennen, können wir oft schon vor dem Speziesübertritt das zoonotische Potential eines Virus untersuchen. Wir können die Pathogenese vorhersagen, Diagnostika entwickeln und Angriffspunkte für Medikamente und Impfstoffe bestimmen", erklärte sie. So schnell wie in dem Kinofilm "Contagion" ginge es zwar nicht ‒ "das wäre toll!", meinte Gerold. "Aber es geht schon viel schneller als vor zehn Jahren."

Der Grund dafür seien unter anderem Plattformtechnologien. In ihrem eigenen Labor ist die Forschungsgruppenleiterin dabei, eine Plattform aufzusetzen, um Rezeptoren und andere Wirtsfaktoren, die für die Infektion mit neuartigen Erregern eine Rolle spielen, wie sie selber sagt "relativ schnell" finden zu können. Eine zentrale Technologie ist die Proteomanalytik per Massenspektrometrie, bei der die Interaktion von Virusproteinen mit Proteinen der infizierten Menschen oder Tiere untersucht wird. Auf deren Basis konnten Gerold und ihre Mitarbeitenden bereits einen Proteinkomplex aufklären, der für den Eintritt des Hepatitis-C-Virus in Leberzellen des Menschen wichtig ist. Zudem nutzen sie molekulare Methoden wie die Genschere, um die gefundenen Interaktionspartner zu charakterisieren. "Eingebettet ist das Ganze in Bioinformatik und Systembiologie, die uns erlauben, Netzwerke beteiligter Moleküle aufzuklären", ergänzt Gerold. "So verstehen wir, wo wir mit der Virusinfektion interferieren können, ohne die Zelle zu stark zu beeinflussen."
Wirtszellen gezielt zu beeinflussen, hält sie dagegen für einen vielversprechenden Ansatz für Therapien gegen künftige Infektionskrankheiten. Viren sind klein und sehr unterschiedlich, so dass Medikamente extrem spezifisch wirken müssen, erklärte sie. Ihr Erbgut ist zudem hoch dynamisch, es mutiert und evolviert schnell, so dass sich Resistenzen gegen Medikamente bilden. "Um ein wirkliches Breitbandmedikament gegen Viren zu entwickeln, ist es möglicherweise schlauer, beim Menschen anzusetzen", meint Gerold.
Warum wir aktuell so wenig über Ansätze für Medikamente gegen die neuartige COVID-19 Erkrankung hörten, fragte MHH-Präsident Manns aus dem Publikum. Die Frage sei verkehrt herum gestellt, konterte sein Kollege Prof. Reinhold Förster. "Medikamentenentwicklung dauert im Schnitt zehn bis fünfzehn Jahre", erklärte er. "Die Frage müsste lauten: Warum haben wir so schnell einen Impfstoff gegen SARS-CoV-2? Und die Antwort ist: Weil Forschende wie Asisa Volz Plattformen für ihre Entwicklung aufgebaut haben!"
Autorin: Dr. Ulrike Schneeweiß