"Auch heute sind es nicht nur Dschihadisten, die religiös motivierten Terrorismus ausüben", führt Wunn aus. Auf Sri Lanka fänden Anschläge mit hinduistischem Hintergrund statt, in Indien übten sie Anhänger des Sikhismus aus und in den USA evangelikale Christen.
Fundamentalismus und Reform
Islamismus, Fundamentalismus und Salafismus seien nach dem Zerfall der großen islamisch geprägten Weltreiche wie dem osmanischen, dem persischen und dem Mogulreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reformbewegungen entstanden, erläutert Prof. Dr. Dr. Ina Wunn: "Geistliche Eliten gaben daran einem Versagen des Islam die Schuld, der angeblich unislamisch geworden sei."
Die Reformbewegungen seien als Graswurzelbewegung entstanden, einerseits mit dem Ziel, den europäischen Kolonialherren eigene Werte entgegensetzen zu können. "Andererseits ging es dabei auch um die Etablierung eines starken Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens", so Wunn. Als die Staaten jedoch schließlich ihre nationale Unabhängigkeit erhielten, habe dies zu Diktaturen und Willkürherrschaften geführt.
Untergrund und Radikalisierung
"Anstatt sie an der Macht zu beteiligen, wurden die religiösen Reformbewegungen verfolgt und in den Untergrund getrieben, wo sie sich weiter radikalisierten", erklärt Prof. Dr. Dr. Ina Wunn. Als grundlegend für den heutigen Dschihadismus sieht sie den ägyptischen Autor Sayyid Qutb, der im Jahr 1951 der sunnitisch-islamistischen Muslimbruderschaft beitrat und zu einem ihrer wichtigen Theoretiker wurde.
"Laut Koran folgt ein Dschihad engen Regeln", erläutert Wunn. Dazu zähle, dass er nur gegen Feinde des Islam geführt werden dürfe. Sayyid Qutb verglich die ungläubigen Mekkaner, gegen die Mohammed in den heiligen Krieg zog, mit den nur nominellen Muslimen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die seiner Meinung nach kein islamisches Ethos hatten – und folgerte, auch gegen diese sei ein Dschihad erlaubt.
Regionalkriege und Globalisierung
"Diese These hatte für die islamische Welt grauenhafte Folgen", stellt Prof. Dr. Dr. Ina Wunn fest und führt aus: "Nun war es für die Fundamentalisten legitim, innerhalb der islamischen Welt mit Gewalt gegen andersdenkende Muslime vorzugehen." Diese Entwicklung habe sich schließlich über den Islam hinaus globalisiert, als Großmächte in regionale Konflikte eingriffen. Wunn erklärt: "Durch das Eingreifen der USA im zweiten Golfkrieg bezogen sie für sich und ihre Verbündeten Stellung in einem regionalen Krieg innerhalb der islamischen Welt."
Dies habe erst zum Export des dschihadistischen Terrors geführt: "Der Anschlag auf das World Trade Center war eine direkte Reaktion auf die Einmischung der USA im Irak." Deutschland sei in diesen Konflikt hineingezogen worden, als die westlichen Verbündeten Solidarität einforderten. Inzwischen habe sich die Situation so polarisiert, dass viele Muslime die westliche Welt als generell islamfeindlich sehen. "Sie sehen sich als Opfer einer Neuauflage der christlichen Kreuzzüge", fasst Wunn zusammen.