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Das Podium war besetzt mit zwei Befürwortern der Cancel Culture und zwei Kritikerinnen. Lars Distelhorst, Professor an der Fachhochschule Clara Hoffbauer in Potsdam, und Karsten Schubert von Seminar für wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg sehen in der Protestform vor allem eine notwendige Erweiterung des gesellschaftlichen Diskurses. In einer von Ungleichheit und Diskriminierung geprägten Gesellschaft mache Cancel Culture die Identität von unterprivilegierte Minderheiten sichtbar und verhelfe diesen zu Repräsentanz und Geltung, argumentiert Schubert. Für den Politikwissenschaftler sind die bekannten Phänomene der Cancel Culture "ganz normale Prozesse des politischen Protestes" und tragen eher zur Demokratisierung der Demokratie bei als zu Einschränkungen in der Meinungs-, Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit.
Anonymer Rufmord übers Internet
Susanne Schröter vom Institut für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt hat andere Erfahrungen gemacht. 2019 fragte die Professorin im Rahmen einer von ihr organisierten Konferenz, ob das muslimische Kopftuch ein Symbol der Würde oder der Unterdrückung sei. Eine nicht näher genannte Gruppe forderte daraufhin im Internet die Entlassung Schröters aus dem Universitätsdienst und beschimpfte sie als "antimuslimische Rassistin". "Diese Geschichte ist in meinem Fall gut ausgegangen", erzählt die per Video zugeschaltete Wissenschaftlerin, AStA und Hochschulleitung hätten ihr den Rücken gestärkt. Im Nachgang sei es jedoch häufiger vorgekommen, dass Veranstalter Bedenken gehabt hätten, sie zu Vorträgen einzuladen.

Cancel Culture an sich, sagt Lars Distelhorst, gebe es seit vielen Jahrzehnten. Nur sei darüber kaum geredet worden, weil es die Eliten nicht betroffen habe. "Es trifft jetzt die, die das Canceln nicht gewohnt sind. Es werden Stimmen gehört, die vorher nicht gehört wurden."
Es geht um Repräsentanz
Ein zentraler Begriff der Diskussion ist der der kulturellen Aneignung. Darf die Schauspielerin Scarlett Johansson in einem Film eine Transperson verkörpern? Dürfen Kinder an Fasching Federschmuck tragen? Oder ist beides verletzend für betroffene Minderheiten? Lars Distelhorst bewertet die Empfehlung der Hamburger Kita, aus der dieses Beispiel kommt, als pädagogisch begründet. "Bestimmte Kostüme sind nicht besonders kultursensibel." Die Frage sei, wie eine solche Kostümierung auf Betroffenen wirke. Im Übrigen: "Wo ist der Verlust, wenn ich ein anderes Kostüm anziehe?"
Wenn Kunst einen inhärenten Freiheitsanspruch in sich trägt, warum wurde Scarlett Johansson dann daran gehindert, einen Transmann zu spielen? Distelhorst betont, es gehe nicht darum, dass nur eine Transperson eine Transperson spielen könne, vielmehr gehe es um Repräsentanz. "Im Moment spielen Transpersonen in Filmen gar keine Rolle. Und das ist das Problem." Karsten Schubert pflichtet Distelhorst bei, Scarlett Johansson könne noch viele andere Rollen spielen. Susanne Schröter bekommt Beifall aus dem Publikum, als sie konstatiert, dass es das Ende der Schauspielkunst wäre, wenn jeder nur noch sich selbst spielen würde.

Gehen Maß und Mitte verloren
Ganz ähnlich argumentiert Schriftstellerin Thea Dorn in Bezug auf die Literatur. Aneignung sei ein substantieller Teil der Literatur. Wenn man darauf verzichte, gebe es keine Literatur mehr. Außerdem: "Wenn jeder nur noch aus seiner Innenperspektive erzählt, glaube ich nicht mehr, dass wir uns noch verständigen können." Schubert fragt rhetorisch, warum man nicht zumindest bei Kinder- und Jugendbüchern auf Werke zurückgreife, die pädagogisch wertvoll sind und keine sexistischen oder rassistischen Stereotype reproduzieren. Dorn verteidigt am Beispiel von Pippi Langstrumpf die literarische Freiheit. "Das war kein pädagogisches Buch – im Gegenteil. Das war frei, wild. Das ist mein Problem: Alles muss heute pädagogisch sein. Nein!"
Susanne Schröter stimmt Dorn zu. Es sei nicht alles Rassismus, was Grenzen überschreite. "Wenn wir immer nur politisch korrekt wären, dann wäre das Leben wirklich traurig." Aus ihrer Sicht führe die Ausweitung des Rassismus-Begriffes dazu, dass sich die Leute in ihre Echokammern zurückzögen, dies sei keine gute Entwicklung. "Ich habe den Eindruck, dass da im Moment Maß und Mitte verloren gehen."

Raum für Wissenschaft wird eingeengt
Schröter sieht in der Debatte um Identitätspolitik und kulturelle Aneignung auch die Freiheit der Wissenschaft in Gefahr. Dies betreffe ganze Themenblöcke, so sei der Islamische Extremismus weithin diskreditiert. Junge Wissenschaftler:innen und Studierende seien von Repressionen betroffen. Sie wisse von Doktorarbeiten, die abgelehnt worden seien, weil sie das falsche Thema behandelt hätten. Der Raum für Forschung werde eingeengt. "Da sehe ich die Wissenschaftsfreiheit gefährdet." Neu ist für Dorn der Gestus von Cancel Culture. Da werde bei Meinungsverschiedenheiten keine Auseinandersetzung mehr gesucht. Vielmehr werde gefordert: "Da muss was weg!"
Susanne Schröter sieht in der Cancel Culture einen Ressourcenkampf einer kleinen Gruppe von sehr privilegierten Menschen, in der Regel Akademiker. "Sie haben Positionen, in denen sie sich Gehör verschaffen können. Das ist eine neue Elite, die ihre Spielräume auslotet." Es gehe um Jobs, Deutungshoheit und auch um Geld. "Die Legitimität der eigenen Vorhaben wird häufig mit Identitätspolitik begründet."

Falsches Verständnis von Freiheit
Kann der emanzipatorische Anspruch der Cancel Culture mit dem Freiheitsversprechen einer demokratischen Gesellschaft in Konflikt geraten, fragt Ulrich Kühn in die Runde. Die Freiheit sei nicht in Gefahr, versichert Lars Distelhorst. Allerdings werden bestimmte Verhaltensmuster kritisiert, Privilegien müssten teilweise aufgegeben werden. Diese Privilegienabbau schaffe Freiheit für vormals Ausgeschlossene, ergänzt Karsten Schubert.
Thea Dorn verweist auf die Aggressivität aus den Aktivistengruppen. Diese konfrontative Rhetorik stehe für ein völlig falsches Verständnis von Freiheit. "Man muss begreifen, dass Freiheit kein Synonym für Rücksichtslosigkeit ist." Dorn sagt, sie habe darüber hinaus ein wachsendes Problem mit der Wankelmütigkeit arrivierter Institutionen. Stehe der Vorwurf von Rassismus oder Sexismus im Raum, seien immer mehr Institution bereit, bestimmten Forderungen, beispielsweise nach Absetzung einer Diskussion, zu leicht nachzugeben. "Das ist vorauseilende Feigheit." Allerdings, so Dorn, halte sie Optimismus für eine Bürgerplicht in einer liberalen Gesellschaft. Sie hoffe auf Entspannung, weil alle eine Verantwortung für die Gesamtgesellschaft hätten. "Das Eskalationsspiel bringt nichts."
Autor: Bruno Brauer