"Experiment!": Förderung für 17 "verrückte" Forschungsideen

Lernfähige Pflanzen, Nanodrohnen, Ultrahochleistungsbeton: "Experiment!"-Förderung der VolkswagenStiftung ermöglicht 17 ungewöhnliche Projekte mit ungewissem Ausgang aus den Natur-, Ingenieur-, und Lebenswissenschaften.

Bereits zum dritten Mal hat die VolkswagenStiftung die Kreativität von Wissenschaftler(innen) herausgefordert und dazu aufgerufen, sich mit besonders risikoreichen und radikal neuen Forschungsansätzen für ihre Förderinitiative "Experiment!" zu bewerben. Wie schon in den vergangenen Runden traf das Angebot auf sehr großes Interesse: Insgesamt 425 Ideenskizzen gingen bis zum Stichtag im September 2015 bei der Stiftung ein. Ende November 2015 wählte eine internationale Jury in einem anonymisierten Verfahren 17 Projekte aus. Sie erhalten eine Fördersumme von bis zu 100.000 Euro und haben 18 Monate Zeit, um ihr Vorhaben auf Tragfähigkeit zu prüfen. Ein Scheitern des Konzeptes und unerwartete oder negative Befunde werden dabei als Lern- und nicht als Misserfolg begriffen und als Projektausgang ausdrücklich akzeptiert.

Einige der neuen Projekte stellen wir im Folgenden kurz vor:

Nano-Drohnen aus einkristallinem Gold lassen sich mit Licht steuern: Linear polarisiertes Licht treibt die Drohne an, durch zirkular polarisiertes Licht wird sie seitwärts bewegt oder gedreht. (Bild: Bert Hecht, Gary Razinskas)

Nano-Drohnen mit Lichtantrieb

Spätestens seit große Versandhändler angekündigt haben, ihre Pakete in Zukunft mit Drohnen ausliefern zu wollen, sind kompakte Multikopter-Drohnen den meisten Menschen ein Begriff. Solche Fluggeräte zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbst komplexe Manöver mit äußerster Präzision ausführen können. Der Physiker Prof. Dr. Bert Hecht und sein Team von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg wollen diese Prinzipien nun auf die Nanometerskala übertragen. Winzige Nano-Drohnen sollen mit polarisierten Laserstrahlen sowohl gesteuert als auch mit Antriebsenergie versorgt werden (Abb. s. oben). Damit stünde eine neue Klasse von Nano-Werkzeugen bereit, die sich hochpräzise durch Flüssigkeiten steuern lassen. Profitieren würden davon die Nanotechnologie und die Lebenswissenschaften. So könnten beispielsweise Nanoteilchen in drei Dimensionen abgetastet oder angeordnet oder Objekte im Inneren von Zellen manipuliert werden. Durch die Verwendung von Pulsfolgen mit unterschiedlicher Polarisation sollte es laut Hecht möglich sein, "die Bewegung von Nano-Drohnen mit Abmessungen im Bereich der Lichtwellenlänge in Flüssigkeiten so exakt  zu steuern wie ihre großen Geschwister bei der Paketauslieferung".

Pawlow’sche Reflexe: Sind Pflanzen lernfähig?

Dr. Michal Gruntman und Professorin Katja Tielbörger vom Institut für Evolution und Ökologie der Universität Tübingen wollen untersuchen, ob Pflanzen ‒ ähnlich wie Tiere ‒ auf bestimmte Verhaltensweisen konditioniert werden können, obwohl sie kein klassisches Nervensystem oder gar Gehirn haben. Sollte sich diese Idee bestätigen, würde das die Grenzen zwischen Tier- und Pflanzenreich verwischen. Vorbild ist das berühmte Experiment des russischen Nobelpreisträgers Iwan Pawlow: Der "Pawlow’sche Hund" konnte mit einem Glockenton zu Speichelfluss angeregt werden, auch wenn gar kein Futter präsentiert wurde. Diese Konditionierung wurde durch eine vorhergehende Koppelung des korrekten Signals (Futter) und des falschen Signals (Glockenton) erreicht. Die Wissenschaftlerinnen testen experimentell, ob sich Pflanzen ebenso mit falschen Signalen konditionieren lassen. Hierzu wollen sie beispielsweise bei der fleischfressenden Venusfliegenfalle und der Mimose schnelle Blattbewegungen durch Reize (intensive Lichtblitze) auslösen, die nichts mit Futter oder Gefahr zu tun haben.

pH-Sensor mit neuartigem Abzählprinzip

Mimosen reagieren mit Einklappen der betroffenen Blätter und Zweige auf mechanische Reize (Foto: Tau'olunga via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Prof. Dr. Peter Kurzweil von der Fakultät Maschinenbau/Umwelttechnik der Ostbayerischen Technischen Hochschule  Amberg-Weiden möchte ein neues Messprinzip zur Bestimmung des Säuregrades etablieren, das ohne die umständliche Kalibrierung mit Hilfe von Pufferlösungen auskommt. Die heutige Messung von pH-Werten gelingt nur in wässrigen Lösungen und erfordert Vergleichslösungen. Das Forscherteam will diese Einschränkungen durch ein revolutionäres Messprinzip überwinden, das in technischen und medizinischen Medien wie Lebensmitteln, Chemikalien, Öl und Blut funktioniert. Mit Hilfe protonenleitender Metalloxide sollen Protonenaktivitäten an der Grenzfläche zwischen einer Messelektrode und dem Medium "gezählt" und die Größe des pH-Wertes mit den Basisgrößen des Internationalen Einheitensystems gekoppelt werden. Diesem Ansatz der Grundlagenforschung entspringen im Erfolgsfall weitreichende praktische Anwendungen in der Chemie, Umweltüberwachung, Automobilindustrie, Medizin, Haustechnik und weiteren Industriesegmenten. "Die heutige pH-Messung mit der Glaselektrode erfordert Fachkenntnis. Eine direkt anzeigende Methode könnte auch von Laien eingesetzt werden und die bekannten Farbteststreifen an Genauigkeit übertreffen", so Prof. Dr. Peter Kurzweil.

Das Erdmagnetfeld - ein Zeitgeber für unterirdisch lebende Säugetiere?

Prof. Dr. Peter Kurzweil (Foto: OTH Amberg-Weiden)

An der Universität Duisburg-Essenuntersuchen die Zoologen Dr. Sabine Begall und Dr. Pascal Malkemper, wie unterirdisch lebende Nagetiere ihre aktiven Phasen bestimmen, da sie dafür weder das Sonnenlicht noch die Außentemperatur nutzen können. Orientieren sich die Tiere am Magnetfeld, das täglich regelmäßig schwankt? Um diese Frage zu klären, beobachten die Wissenschaftler die Rhythmik von Graumullen, die in großen Familienverbänden in unterirdischen Gangsystemen leben, unter verschiedenen Magnetfeldbedingungen. Wenn sich ihre Vermutung bestätigt, wäre dies der erste Nachweis für einen magnetischen Zeitgeber bei Säugetieren. Dr. Begall: "Dies hätte bedeutende Folgen für die Forschung in der Chronobiologie und Magnetorezeption."

Beton statt Stahl im Maschinenbau

"Schnappschuss” des Erdmagnetfelds im Juni 2014 (Grafik: ESA/DTU Space)

Stählerne Zahnräder und Kugellager kommen in jeder Maschine vor. Könnten sie statt aus Stahl aus einem leichteren Hochleistungsmaterial gefertigt werden, würde das reduzierte Gewicht der Geräte beispielsweise dazu führen, dass Autos weniger Sprit verbrauchen und somit eine geringere Menge an Kohlendioxid ausstoßen. Bauingenieure der Universität Duisburg-Essen unter der Leitung von Professorin Dr. Schnellenbach-Helduntersuchen, ob sich der beliebig formbare Ultrahochleistungsbeton (UHPC) für die Herstellung von Zahnrädern und Kugellagern eignet und optimieren lässt. Er ist um 2/3 leichter als Stahl, rostet nicht, übersteht hohe Temperaturen und leitet keinen Strom sowie kaum Wärme. Schnellenbach-Held: "Damit betreten wir absolutes Neuland."

Rote Waldameisen als Geo-Indikatoren?

Kugellager aus Stahl (Foto: btr, via Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.5)

Warum kommen Ameisenhaufen in großen Clustern vor und warum baut die rote Waldameise ihre Nester auf seismisch aktiven, ausgasenden Störungszonen? Mit biologischen Faktoren alleine ist dieses Verhalten nicht zu erklären. Dr. Gabriele Berberich von der Universität Duisburg-Essen möchte zusammen mit Kollegen von der Harvard Universität in Cambridge, USA, und der TU Dortmund u.a. untersuchen, wie die Aktivitätsmuster der roten Waldameise mit sich ändernden Nest- und Bodengaskonzentrationen zusammenhängen. Welche Rolle spielen dabei Erdgezeiten und Erdbeben? Und welchen Einfluss haben meteorologische und klimatische Prozesse? Die multidisziplinäre Studie kombiniert erstmals geologische, geophysikalische und biologische Untersuchungsmethoden mit Bildanalysetechniken und modernen statistischen Methoden und soll einen Beitrag zum vertieften Verständnis von GeoBio-Interaktionen und zur aktuellen Klimadiskussion leisten.

Neue Theorie zur Signalverarbeitung in menschlichen Zellen

Rote Waldameise (Formica rufa) (Foto: Michael Hanselmann via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Der Tumorbiologe Prof. Stephan Feller von der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg untersucht die molekulare Grundlage der Signalverarbeitung in menschlichen Zellen. "In jeder Zelle werden gleichzeitig Hunderte von Signalen verarbeitet, das bedeutet viel Rechenarbeit, die dann in zelluläre Verhaltensweisen wie Zellwanderung, -teilung oder auch Zelltod umgesetzt wird. Unser Körper ist also quasi ein extrem effizienter Supercomputer", so der Feller. "Unsere Theorie ist nun, dass die Signalverarbeitung deutlich eleganter funktioniert, als bisher angenommen wird und als es bis jetzt in den Lehrbüchern steht. Und wir glauben auch zu wissen, wie einige solcher ‚Computer‘ in Zellen funktionieren, wir können es nur noch nicht beweisen". In dem Projekt wird er sich insbesondere auf die Signalverarbeitung des sogenannten c-Met-Rezeptors konzentrieren, den man beispielsweise in Leber-, Nieren- oder auch Muskelvorläuferzellen findet und der die Andockstelle für den Hepatozyten-Wachstumsfaktor (HGF) ist. Das Rezeptorsystem spiele ebenfalls eine Rolle bei der Teilung und Wanderung von Krebszellen, also bei der Metastasierung von Tumoren, so Prof. Feller. Langfristig könnten sich daher daraus eventuell auch neue Ansätze in der Krebsbehandlung ergeben.

Kristallographie ohne Kristalle

Prof. Stephan Feller (Foto: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)

Dr. Masato Akutsu, Gruppenleiter am Institut für Biochemie II der Goethe-Universität Frankfurt a. Main (IBC2) und am Buchmann Institute for Molecular Life Sciences (BMLS), möchte die Strukturaufklärung mittels Proteinkristallographie revolutionieren. Der erste Schritt, die Gewinnung geeigneter Proteinkristalle, erweist sich hierbei oft als unüberwindbare Hürde. Akutsu prüft nun einen neuen technologischen Ansatz, bei dem keine Proteinkristalle im konventionellen Sinne mehr benötigt werden. Sollte dieser sich als erfolgreich erweisen, so ebnet er den Weg zu hochauflösenden Strukturen für eine lange Liste an Proteinen, die bislang für diese Technologie nicht zugänglich waren.

Weitere in der Initiative "Experiment!" geförderte Projekte

Alle bislang in der Initiative geförderten Projekte (mit Projektbeschreibungen) finden Sie in der Projekt-Personen-Suche der VolkswagenStiftung unter "Projekt-Personen-Suche: Experiment!"

Hintergrund zur Förderinitiative "Experiment!"

Die Förderinitiative "Experiment!" unterstützt schnell und unaufwändig radikal neue Forschungsvorhaben mit ungewissem Ausgang aus den Natur-, Ingenieur-, und Lebenswissenschaften einschließlich der Verhaltensbiologie und der experimentellen Psychologie. Der nächste Stichtag ist der 5. Juli 2016. Weitere Informationen finden Sie unter "Förderinitiative: Experiment!".

Gesucht: Alternativen zur Proteinkristallisation (Grafik: BMLS)