
"Die Lektüre ist schwierig, weil das Thema schwierig ist", beginnt die Wissenschaftsjournalistin Dr. Jutta von Campenhausen wenig schmeichelhaft ihre Laudatio auf die diesjährige Sachbuchpreisträgerin des Opus Primum. "Der Stoff ist aber spannend, er ist sogar existenziell", relativiert die Laudatorin sogleich, "Es geht in gewisser Weise um die Zukunft der Menschheit." Der Titel des Buches, von dem von Campenhausen spricht, lautet "Technikfolgenabschätzung des CRISPR/Cas-Systems. Über die Anwendung in der menschlichen Keimbahn". Verfasst hat es die Medizinerin Annika Hardt, die erst am Vortag der feierlichen Verleihung ihr drittes Staatsexamen erfolgreich abgeschlossen hat – und somit gleich doppelten Grund zur Freude hatte.
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In ihrem Werk, für das Hardt den mit 10.000 Euro dotierten Preis erhalten hat, setzt sie sich mit komplexen bioethischen Fragen über den Einsatz der CRISPR/Cas-Methode und dessen Folgen auseinander. Die Methode, die gemeinhin auch als "Genschere" bezeichnet wird, ist weltweit in Laboren im Einsatz. Ihre Verwendung in der menschlichen Keimbahn, also vor der Geburt eines Kindes, ist jedoch umstritten: Während in Deutschland und anderen Staaten aktuell äußerst kontrovers über die Veränderung des Genoms menschlicher Keimzellen und Embryonen diskutiert wird, kamen in China im November 2018 bereits die ersten geneditierten Zwillinge zur Welt.
Bei Gentechnologie zählen nicht nur biologische und medizinische Faktoren
Hardt hat in ihrem nun preisgekrönten Erstlingswerk neben naturwissenschaftlichen und medizinischen auch rechtliche, ethische und sozialpolitische Aspekten der Keimbahneingriffe analysiert. Sie hat sich Fragen danach gewidmet, ob im Namen der Wissenschaft oder für medizinische Behandlungen alles erlaubt sein sollte, was technisch möglich ist. "Beispielsweise wird an der genetischen Therapie von Gehörlosigkeit gearbeitet. Dabei empfinden viele Menschen, die gehörlos sind, sich nicht als krank", berichtet Hardt. Die Diskussion darüber, was möglich, aber auch, was überhaupt sinnvoll ist, muss geführt werden, um eine Stigmatisierung von Erkrankungen zu verhindern. "Zudem droht die Tatsachenschaffung, die Diskussion zu überholen", meint die Forscherin.

Laudatorin von Campenhausen stimmt ihr zu: "Aber der Diskurs darüber, welche Probleme wir biotechnisch lösen wollen und dürfen – wenn wir es irgendwann können –, ist schon jetzt wichtig." Und fügt hinzu, dass die Forscherin eine Risiko-Nutzen-Analyse auf der Höhe der Zeit geschaffen hat. "Und außerdem hat sie für eine medizinische Dissertation ein ziemlich dickes Brett gebohrt."
In Anbetracht der Komplexität der Forschungsfrage sowie der moralischen, rechtlichen und ethischen Aspekte, der sie sich gewidmet hat, wünscht sich Annika Hardt schlichtweg "einen achtsamen und aufmerksamen Umgang mit der Thematik." Dies sei Hardt in ihrem Werk zweifellos gelungen, findet Dr. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung, als er ihr die Opus-Primum-Urkunde überreicht: "Dieses Buch findet weit über den Tellerrand hinaus Interessentinnen und Interessenten, die sich über die Thematik informieren wollen." Bei der Entscheidung über die Vergabe des Förderpreises spiele immer eine große Rolle, dass dessen Thema eine Relevanz über das eigentliche Fach hinaus besitzen und das Buch auch einer breiten Öffentlichkeit verständlich sein soll.
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Bücher haben Macht
Auch das zweite Sachbuch, das an diesem Abend in Schloss Herrenhausen in Hannover ausgezeichnet wurde, wendet sich an eine breite Öffentlichkeit. Für "Im Unterland. Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde" hat der britische Autor Robert Macfarlane den NDR Kultur Sachbuchpreis, dotiert mit 15.000 Euro, erhalten. "Bücher haben eine enorme Macht und wirken sich auf unsere Politik, Wirtschaft, auf Ethik und die Gesellschaft aus", sagt Macfarlane. In seinem Werk berichtet er über Höhlenlandschaften in England und Slowenien, den Untergrund von Paris oder auch die schwindende Gletscherwelt Grönlands.

Musikalisch untermalt wurde der Abend von den Musikern Asya Fateyeva und Stepan Simonian, intellektuell ergänzt von Prof. Dr. Aleida Assmann, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, und ihrem Impulsvortrag "Aufsatteln und Umsatteln – oder: Wie verändern sich die Rahmenbedingungen unseres Denkens?" Die Verleihung von NDR Kultur Sachbuchpreis fand in diesem Jahr zum 11. Mal statt, die des Opus Primum zum neunten Mal. Die Frist für Einsendungen zum Opus Primum in 2020 wird im kommenden Frühjahr bekannt gegeben.
Biografische Daten
Annika Hardt (Jg. 1986) ist Medizinerin und arbeitet in der Forschungsgruppe "Ethik in der Informationstechnologie" an der Universität Hamburg. Als Doktorandin war sie unter anderem im Fachbereich der Klinik für Stammzelltransplantation sowie beim Forschungsschwerpunkt "Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt" der Uni Hamburg tätig. Aktuell schließt sie das Studium der Humanmedizin am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf ab und strebt an, sich als Assistenzärztin im Fachbereich der (Radio)Onkologie weiterzubilden und wissenschaftlich zu engagieren.
Bibliografische Angabe
"Technikfolgenabschätzung des CRISPR/Cas-Systems. Über die Anwendung in der menschlichen Keimbahn", Annika Hardt; De Gruyter; 312 Seiten, 49,95 Euro
Weitere Beiträge zum Thema
Link zu einem ausführlichen Interview mit Annika Hardt zu ihrem Siegertitel.
Link zur Pressemitteilung zur Gewinnerin des Opus Primum 2019.
Hintergrundinformationen zum Förderpreis Opus Primum
Mit dem Förderpreis Opus Primum möchte die VolkswagenStiftung den wissenschaftlichen Nachwuchs stärken und hervorheben, dass Wissenschaftsvermittlung für die deutsche Forschung eine zentrale Aufgabe ist. Die Auszeichnung wird seit 2011 jährlich für eine deutschsprachige Publikation von hoher wissenschaftlicher Qualität vergeben, die gut lesbar geschrieben und auch einem breiteren Publikum verständlich ist.
Link zu den bisherigen Gewinnerinnen und Gewinner des Förderpreises Opus Primum.