Monika Betzler ist Inhaberin des Lehrstuhls für Praktische Philosophie und Ethik an der LMU München. Sie forscht schwerpunktmäßig zur Ethik der Beziehungen, der elationalen Moraltheorie und der Moralpsychologie und leitet das Münchner Kolleg "Ethik in der Praxis". (Foto: Janek Stroisch)
Welchen Stellenwert hat das Thema für die VolkswagenStiftung?
Henrike Hartmann: Einen sehr hohen. Wir versuchen, ethische Fragen in alle Prozesse zu implementieren: in die Begutachtungen von Anträgen, in Veranstaltungen und natürlich in die Projektbegleitung. Auch von unseren Gutachter:innen erwarten wir, dass sie berücksichtigen, ob sich die Antragstellenden Gedanken über die Implikationen ihrer Ergebnisse machen.
Frau Betzler, Sie haben mit Unterstützung der Stiftung das Kolleg "Ethik in der Praxis" gegründet. Wie kommt die Ethik in die Gesellschaft?
Monika Betzler: Die Ausgangsfrage war, wie die Philosophie Verantwortung für die Gesellschaft mittragen kann. Das Kolleg bildet Philosophie-Doktorand:innen so aus, dass sie zu ethischen Fragestellungen in der Gesellschaft etwas zu sagen haben und nicht in ihrem Elfenbeinturm bleiben. Sie verbringen ein halbes Jahr in Organisationen und Unternehmen und erfahren dort im Alltag, mit welchen Fragestellungen Menschen in der Praxis täglich konfrontiert sind. Vor diesem Hintergrund, so unser Ansatz, werden ethische Überlegungen empirisch informiert und auf spezifische Probleme fokussiert entwickelt.
Haben Sie da ein konkretes Beispiel?
Monika Betzler: Eine Doktorandin von mir forscht im Bereich der Familienethik über die Frage, was wir als Gesellschaft Scheidungskindern schulden. Sie hat in ihrer Zeit am Deutschen Jugendinstitut gelernt, wie man sozialwissenschaftliche Erhebungen über die Probleme von Scheidungskindern durchführt. Die Ergebnisse
sind die Basis dafür, philosophisch zu reflektieren, was Begriffe wie "gerecht" und "fair" in Bezug auf diese Kinder überhaupt bedeuten.
Der Lernprozess geht vermutlich in beide Richtungen.
Monika Betzler: Genau. Ich bin dankbar, dass wir mit dem Kolleg dazu beitragen können, die Kompetenzen unseres Fachs stärker in die Gesellschaft zu tragen. In den USA und England gibt es bereits Beratungsunternehmen spezifisch für ethische Fragen. Das wären auch Berufsbilder für Philosophieabsolvent:innen hierzulande.
Frau Hartmann, die Stiftung fördert das Kolleg mit 1,6 Millionen Euro. Was überzeugt Sie an dem Ansatz?
Henrike Hartmann: Das sind viele Aspekte. Das Kolleg schafft eine Durchlässigkeit zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, zudem werden hier die Grenzen zwischen den Disziplinen überschritten. Wir verstehen uns ja als Impulsgeber, wir wollen zeigen: "Schaut mal, so kann es auch gehen." Insofern ist das eine Förderung, die der Mission und dem Selbstverständnis der Stiftung in hohem Maße entgegenkommt.
Monika Betzler: Solche Fördermaßnahmen sind von echter signalsetzender Bedeutung. Die Universitäten sind häufig starr in ihren Strukturen. Impulsgebung von außen hilft, Strukturen aufzuweichen und umzugestalten. Dafür geben Universitäten dann durchaus die Möglichkeit.
Zum Schluss eine Frage nach der Forschungsfreiheit: Sehen Sie die Gefahr, dass diese durch eine zunehmende Bedeutung ethischer Fragen eingeschränkt wird?
Henrike Hartmann: Diese Gefahr sehe ich nicht. Ethische Fragen fordern auf zum verantwortungsvollen Umgang mit Forschungsfreiheit. Gleichzeitig wird durch diese Freiheit gewährleistet, dass diese Fragen ergebnisoffen diskutiert werden können.
Monika Betzler: Man muss unterscheiden zwischen der Wissenschaftsfreiheit einerseits, die ich für ein wichtiges Gut halte, und dem, was mit den Ergebnissen der Forschung geschieht. Ob man zum Beispiel genmodifiziertes Saatgut einfach aussetzt oder zunächst im geschützten Raum gezielt beobachtet.
Henrike Hartmann: Da bin ich vollkommen Ihrer Meinung. Wissenschaftsfreiheit ist kein Freibrief, alles zu tun, was man kann.