Dominik Liebl zum Beispiel beschränkte sich in seinem Gutachten nur auf den Statistikteil in Drostens Studie. Er lieferte also etwas ab, was man ein Teilgutachten nennt und was so im klassischen Peer Review-Drehbuch nicht vorgesehen ist. Dort haben Gutachter die gesamte Arbeit zu beurteilen. Doch genau das ist mit zunehmender Spezialisierung in den Disziplinen kaum in der Qualität zu schaffen, die Merton meinte. Open Peer Review erlaubte Liebl also bei seiner Expertise zu bleiben und diese mit Drosten zu teilen. Und Christian Drosten? Reagierte tatsächlich so, wie es nach Merton angezeigt ist: Er besserte nach. Und das nicht nur ein Mal, sondern vier Mal.
So viele Versionen des Drosten-Papers jedenfalls fand Dr. Claudia Frick. Die Informationswissenschaftlerin am Forschungszentrum Jülich verfolgte – angeregt durch das breite, laute Echo – den Veröffentlichungsweg der Drosten-Studie minutiös. Sie untersuchte an diesem Fallbeispiel den Wissenschaftsdiskurs, den Open Peer Review ermöglicht, und sie entdeckte: "Die begutachtenden Expertinnen und Experten kamen miteinander in einen interdisziplinären Austausch. Das ist etwas, was im anonymisierten Peer Review-Prozess natürlich nicht möglich ist", sagt Frick.
Fricks Analyse macht aber auch deutlich, woran es bei Open Peer Review hakt. Es gibt keine Standards. So konnte sie sechs Gutachten als tragende Säulen im Diskurs aufspüren und auswerten. Diese im Netz zu finden, war eine Sisyphusarbeit. "Der Diskurs lief ziemlich unorganisiert ab", resümiert Claudia Frick. Und: Keiner weiß, ob es nicht irgendwo noch andere Beiträge gab oder gibt.
Die erste Fassung seines Papers stellte Drosten nicht einmal auf einen der Server, die es für Preprints gibt. Er lud die Arbeit einfach auf die Charité-Homepage, twitterte darüber und signalisierte damit: Der Diskurs ist eröffnet.
Große Wissenschaftsjournale wie Nature können Treiber der Entwicklung sein - oder Bremser.
Andere Forschende starten den Open Review-Rave, indem sie ihre Studien auf Preprint-Server laden. Diese Variante hat mindestens zwei Vorteile: Paper auf Preprint-Servern haben eindeutige Zitations- und Publikationsnachweise und signalisieren auch der nicht-akademischen Öffentlichkeit, dass es sich um ein Arbeitspapier handelt, das gutachterlich noch nicht geprüft wurde. Denken lassen sich solche Server natürlich nicht nur als Plattformen für Preprints, sondern auch als Plattformen für die Dokumentation des gesamten Wissenschaftsdiskurses, zu dem die Gutachten genauso gehören wie die neuen Versionen des jeweiligen Papers.
Wie offen der Wissenschaftsdiskurs tatsächlich werden kann, und welche Prozesse und Standards sich beim Open Peer Review herausbilden, lässt sich noch nicht absehen. Klar aber ist: Große Wissenschaftsjournale wie Nature können Treiber der Entwicklung sein – oder Bremser. Nature hat sich für ersteres entschieden. Seit Februar 2020 müssen Gutachter bei Nature damit rechnen, dass ihre Berichte öffentlich gemacht werden – wenn die Begutachteten dies wünschen.
Wir brauchen gute Gutachten, um gute Wissenschaft veröffentlichen zu können.
Im Juni stieg Nature tiefer in die Thematik ein und veröffentlichte eine Umfrage zur Peer-Review-Kommunikation. Die Auswertung der 108 Antworten ergab, dass sich etwa ein Viertel der Begutachteten unangemessenen Formulierungen ausgesetzt sah. Feedback und Kritik wären weder kollegial noch konstruktiv gewesen. Merton? War da nicht.
"Manche Gutachten sind gerade einmal drei Zeilen lang", berichtet Isabella Peters aus eigener Erfahrung als Forscherin. "Das ist kein konstruktives Feedback, das bringt niemanden weiter. Wir brauchen gute Gutachten, um gute Wissenschaft veröffentlichen zu können". Nur woran misst sich Qualität von Gutachten?
Die Frage ist weiter ungeklärt - und bedarf einer Antwort, mahnte schon der Wissenschaftsrat in seiner Analyse zum Begutachtungswesen. Ist sie gefunden, könnte das den Durchbruch von Open Peer Review befördern. Die Reviews würden so nicht nur auf Servern gelistet werden, sie könnten auch auf Publikationslisten der Gutachterinnen und Gutachter auftauchen und in Auswahlprozessen als wissenschaftliche Leistung bewertet werden. Hochwertige Gutachten zu verfassen, wäre dann auch nicht mehr nur eine Frage der Ehre und des Wissenschaftsethos. Es könnte auch Treibstoff für die Karriere sein.
So weit ist die Wissenschaft allerdings noch nicht. Im Moment hat sie genug damit zu tun, auch nur eine allgemein verbindliche Tonlage in einem Diskurs zu finden, an dem sich eben auch fachfremde Stimmen beteiligen dürfen. "Die Sitten sind verroht", stellte der Biometriker Gerd Antes im Laborjournal fest. Die "ursprüngliche Absicht", Forschungsergebnisse "der solidarischen Kritik zu präsentieren", um diese dann mit Verbesserungen ins klassische Peer Review-Verfahren zu bringen, sei auf den Kopf gestellt worden. Stattdessen stünde jetzt eine "unbegrenzte Anzahl selbsternannter Experten bereit, um mit entsprechendem medialen Echo über diese Arbeiten zu diskutieren".
Erschienen ist der Beitrag im Juli, also wenige Wochen nach der BILD-Affäre. Antes will seine Mahnung aber nicht als Plädoyer gegen Open Peer Review verstanden wissen. Im Gegenteil: Dem Wegbereiter der evidenzbasierten Medizin in Deutschland geht es darum, Schaden abzuwenden. "Offenheit und Transparenz sind wichtig", sagt Antes und: "Wir brauchen neue Leitlinien, die kollegiale Kritik in Peer Review-Verfahren unter heutigen Bedingungen möglich macht."