Damit liegt Lieb ganz auf Linie des Wissenschaftsrats, der Hochschulrektorenkonferenz und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Fast im Chor mahnen sie derzeit zu einem Bewusstseinswandel. Die DFG machte daraus im März 2021 sogar ein Gebot, jedenfalls in der Nachwuchsförderung: "Die individuellen Leistungen jeder Wissenschaftlerin und jedes Wissenschaftlers in frühen Karrierestadien, etwa in der Lehre, beim Verfassen von Projektanträgen oder Publikationen, werden adäquat abgebildet und anerkannt", heißt es in den DFG-Prinzipien zur Karriereunterstützung. "Qualitative Maßstäbe" müssten vorrangig gelten. Wichtig zu wissen dabei: Diese Prinzipien sind Gebote. Sie können, aber müssen nicht befolgt werden.
Um gute Wissenschaft zu erkennen, muss man sich ganz einfach hinsetzen und lesen. Robert Kretschmer
Im Moment sieht die Realität jedenfalls noch anders aus. "Drittmittel, Publikationen und Vorträge auf internationalen Konferenzen stehen ganz oben. Erst dann kommt die Lehre", berichtet Robert Kretschmer. Der Chemiker ist Juniorprofessor an der Uni Jena und bewirbt sich gerade auf Lehrstühle. "Einige Kommissionen scheinen ganz erpicht auf die Kennzahlen, damit sie möglichst schnell auswählen können. Ich glaube nicht, dass Corona daran etwas ändert", sagt Kretschmer. Manchmal wird er sogar um eine Excel-Tabelle gebeten, die die Übersicht noch leichter macht.
Neue Kriterien für Exzellenz – und gegen den Frust
Solche Geschichten sind kein Einzelfall. Das weiß Kretschmer aus der Jungen Akademie, der er angehört und wo das Kopfschütteln über das Kennzahlen-Primat groß ist. Bestenauslese stellt man sich dort anders vor: "Um gute Wissenschaft zu erkennen, muss man sich ganz einfach hinsetzen und lesen. Man muss sich mit den Forschungsideen und -konzepten auseinandersetzen", sagt Kretschmer.
Wir müssen uns darauf verständigen, was wir unter exzellenter Forschung verstehen... Ute Klammer
Doch genau diese Arbeit machen sich viel zu wenige. Im Echo-Raum der sozialen Netzwerke kann man den Frust der Basis unter Hashtags wie #ACertainDegreeOfFlexibility, #95vsWissZeitVG oder #IchBinHanna wahrnehmen. Auch die DFG hat die Geduld verloren. Und das schon vor einer Weile. Als sie im Sommer 2019 ihren Kodex zur guten Wissenschaftlichen Praxis reformierte, nahm sie jedenfalls Vorschriften auf, die es in sich haben: DFG-Forschungsgeld soll nur noch an Antragssteller gehen, die die wissenschaftliche Leistung ihrer Team-Mitglieder "in erster Linie nach qualitativen Maßstäben" bewerten und quantitative Indikatoren "nur differenziert und reflektiert" in die Gesamtbewertung einfließen lassen. Außerdem sollen "individuelle Besonderheiten in Lebensläufen in die Urteilsbildung einbezogen" werden. Greifen wird die Regel im Sommer 2022. In einem Jahr wird damit Pflicht, was bisher lediglich ein Gebot darstellt.
Nicht nur in Deutschland wollen Wissenschaftsorganisationen, dass sich was ändert. "Research evaluation and career progression need to move away from their dependency on bibliometric measures", erklärt die OECD. Und die European University Association setzt ihren Mitgliedern ein neues Ziel: "…using a broader set of evaluation practices for academic careers, which include a wide definition of impact, beyond traditional bibliometric indicators". Erreicht sein soll es allerdings erst 2030.
So wichtig solche Schritte auch sind, es braucht noch mehr. "Wir müssen uns darauf verständigen, was wir unter exzellenter Forschung verstehen und welche Kriterien dafür gelten sollen", fordert die ehemalige Prorektorin für Diversity Management an der Uni Duisburg-Essen Ute Klammer. Peter Gumbsch etwa denkt an ein System, in dem auch Leistungen in der Wissenschaftskommunikation, in der Politikberatung, beim Forschungsdatenmanagement oder auch beim Teilen von Daten zählen. Wie die Bestenauslese künftig auch aussehen wird, für den Forscher und Wissenschaftsmanager steht fest: "Die Dominanz der wenigen quantifizierbaren Kriterien wie Publikationen oder Zitationen wird es nicht mehr geben“, und: "Die Pandemie ist Geburtshelferin des Umbruchs."